Am Anfang aller Zeiten

27.7.2020. Frühe Erinnerungen können sehr langlebig sein. Die erste war der Anblick unbekannter fremder Menschen, die in meinen Kinderwagen starrten und damit laute Proteste auslösten. Vielleicht war das im Alter von drei Jahren. Das zweite Bild enstand auf einer sommerlichen Grasfläche mit weidenden Kühen. In den Gedanken ist es, nach so langer Zeit, immer noch klar wie ein Foto gespeichert. Außerdem gibt es tatsächlich auf Papier von der Szene ein kleines Schwarzweißbild, das zusätzlich immer noch existiert. Das Kind war damals etwa fünf Jahre alt.

Warum haben ausgerechnet diese beiden Szenen sich so stark eingeprägt? Das Eine war eine unerwünschte Überraschung. Das Zweite spiegelte eine unbeschwerte Sommer-Idyle, die bald vorbei war. Denn das Grundstück gehörte den Eltern, die es 1954 verkauften, um damit ein neues Privathaus zu finanzieren, Der Verlust dieses unbeschwerten Traums hat sich damals wohl besonders stark eingeprägt.

Weitere frühe Erinnerungsspuren gibt es nur ganz wenige. Aber warum geschah es ausgerechnet in diesen zwei Fällen? Jeden Tag gab es genug zu sehen, aber die Details machten keinen lang überlebenden Eindruck.

Das Gedächtnis trifft seine Auswahl immer nach Maßstäben, die für Kleinkinder keine Rolle spielen. Das lässt sich nicht vorher planen, bewerten und entscheiden. Aber die Bandbreite vergrößert sich später immer mehr. Ab dem Gundschulalter mit sechs Jahren prasseln auf die Schüler Informationen nieder, die wiederholt, abgefragt und sogar mit Zensuren bewertet werden. Noch stärker ist mit zehn Jahren der mögliche Wechsel auf ein Gymnasium mit riesigem Stundenplan und ganz neuen Wissensgebieten, die zukünftige Forscher erst neun Jahre später an der Universität in aller endlosen Breite und Tiefe ertragen müssen. Viel davon bleibt gar nicht hängen, weil es nutzlos war. Vor allem für die Zukunft als klugschwatzende Alleswisser, die damals auch noch mit zusammengewürfelten griechischen und lateinischen Satzbrocken, schlecht verstandenem Halbwissen und einer hochbezahlten Führungsposition lange auf die ersehnte Pensionierung warten mussten. Dann immerhin waren mindstens vierzig ausgesessene Wartejahre Zeit genug für allerlei Unsinn und Dummheiten mit Kollegen. Sie mussten pflichtgemäß die wichtigsten Schnapsideen realisieren, die durch noch mehr fleißige Mitarbeiter in die arme Welt hinaus wanderten. „Nach mir die Sintflut.“ Wer zu solchen bekannte Gedanken trotzdem nicht beifällig nickt und immer Ja sagte, wurde nicht mehr belohnt oder befördert. Das funktioniert. Sonst kann es umgemütlich werden. Ein Abteilungsleiter war bekannt dafür, das er Großaufträge in Millionenhöhe niemals selbst unterschrieb. Aber er besuchte in den Büros jeden Sachbearbeiter pesönlich, fragte ihn nach dem Projektwert aus und entschied dann, natürlich ohne Zuhörer, wer den Auftrag bekam. Als ich vor vielen Jahren, nicht nur in München, solche Geschichten beim täglichen Kaffeetrinken. in der Gemeinschafts-Kantine ständig hörte, war recht schnell klar, dass erfolgreiche Traditionen ein zähes Leben haben, zumal ja auch Fernsehkrimis und Wirtschaftskommentare ständig darüber berichten. Als ich einmal einem sympathischen, tatkräftigen Ehepaar ein großes leeres Grundstück vermietete, befristet auf drei Jahre, kamen die beiden dankbar zur Vertragsunterzeichnung. Die Frau wollte mir sogar eine große gefüllte Plastiktüte überreichen, deren Inhalt ich bis heute nicht kenne. Die gute Stimmung war dann sekundenlang einfach weg. Dann hörten sie, „Wenn Sie die Plastiktüte nicht sofort wieder einstecken und mitnehmen, zerreiße ich die fertigen Verträge, und Sie gehen dann.“ Natürlich haben Beide das sofort verstanden, und weil es sonst ehrliche und zuverlässige Leute waren, haben sie auf dem ungebrauchten Grundstückauch längere Zeit ihre Waren verkauft, ohne irgendeine Beschwerde.

So etwas lernt man in keinem Buch. Aber man versteht es durch Vergleiche und die Abläufe anderer Katastrophen. Jede Bewegung auf der Welt hat Regeln. Eine Arbeitsorganisation mit Lücken sendet Alarmsignale aus. Auch in komplizierten Fällen reicht dabei eine Beschränkung auf die wichtigsten Daten und deren richtige Bewertung. So kann man die unvermeidlichen Pannen schon vorher erkennen und den Schlusspunkt, so wie bei einem nicht erloschenen Vulkan der Rauch in ungewohnt großer Menge, dazu Geräusche von Erdbewegungen und anderen geologischen Warnzeichen einen gefährlichen Vulkanausbruch schon früh ankündigen.

Warnzeichen sind im Gedächtnis aller Lebewesen gespeichert, seit dem Anfang alle Zeiten. Es sind automatische Reflexe, die nicht immer sofortige Bewegungen des Körpers auslösen, aber Gehirnbereiche aktivieren. Logik und Phantasie schaffen dann gemeinsam eine stärkere Wahrnehmung und Ideen, deren Wert sich allerdings an der Realität messen lassen muss. Eine ständige Unruhe kann auch inneren Leerlauf bedeuten, der nur Energie verbraucht und verpulvert.

„Am Anfang aller Zeiten“ gab es auch Klänge. Wasserrauschen. Rascheln von Bäumen. Sturm und Gewitter. Schreie von Tieren. Das ist „archaisch“, stammt also aus ganz frühen Urquellen. Später folgten einfache Instrumente. Trommeln. Flöten. Posaunen. Das lässt sich immer weiter ausbauen.

Archaische, urtümliche,gewaltige Klangwirkungen waren das Erkennungzeichen Anton Bruckners. Als er seine Siebte Sinfonie komponierte, starb im Jahr 1883 ein anderer von ihm hoch verehrter Komponist. Den feierlichen, langsamen zweiten Satz nannte Bruckner deshalb „Trauermusik auf den hoch seligen Meister“. Von Traurigkeit ist da wenig zu hören. Es ist ein Blick in eine andere Dimension: Meditation. Körperlosigkeit. Die Sprache des Kosmos. Zeitlosigkeit.

https://www.youtube.com/watch?v=oKpre_D5TAg

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