6.11.2020. Münster war in der Jugend weit weg, obwohl es nur 56 Kilometer entfernt war. Es war die westfälische „Provinzialhauptstadt“, und später nannten wir es „Provinz-Hauptstadt“, weil es so langweilig erschien. Siebzehn Jahre habe ich dort gelebt, bis 1987. Und wäre wohl heute noch dort, wenn es nicht eine Krise gegeben hätte. Sie war unvermeidlich, betraf den privaten Bereich und hat damals nur die wenigen, direkt Betroffenen interessiert. Aus heutiger Sicht war sie mehr. Als Kettenreaktion verlegte sie den beruflichen Alltag nach München, das schon lange eine vermeintliche Traumstadt war. Bei den Olympischen Spielen 1972 ernannte das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ sie zur „heimlichen Hauptstadt Deutschlands“. Zu viel der Ehre, aber damals strömte die ganze Welt des Sports dorthin, mit einer Sogwirkung für alle anderen Bereiche.
Die berufliche Versetzung dorthin war eigentlich gar kein Problem, Aber im unbekannten München gab es Widerstand. Zuständig war dort ein Preußenfresser. So nannte man die bayerischen Ur-Einwohner, die sich überall breit machten und keine fremden Zugereisten („Zuagroasten“) wollten, weil die dumpfen Bier-Dimpfl auch im überfüllten Hofbräuhaus unter sich bleiben wollten. Die Staatspartei CSU hatte persönlich den weißblauen Himmel erfunden. Und auch das Hochgebirge der Alpen gebaut. Am ersten Arbeitstag sagte ein alter Münchner zu mir, „Ach, Sie kommen aus Süd-Skandinavien ! Hahaha.“ Er arbeitete – 1987 – mit einer alten Rechenmaschine und einem Kugelschreiber und organisierte eine komplizierte Stelle, aber immer anstrengender. Nach sechs Wochen war ich zwar sein Nachfolger, aber das vorgefundene Chaos wurde immer undurchdringlicher.
Die ersten Computer tauchten auf. Fast Niemand konnte etwas damit anfangen. Ein Techniker war ich nicht, wusste aber aus den Zeitungen, was die Wundermaschinen alles konnten. Das neue Programm entwickelte ein guter Mitarbeiter, der so etwas, damals nur privat machte. Ein Zweiter tippte ausschließlich die Riesenmenge an Daten ein. Ich hatte die genauen Wünsche, was Alles zu machen war und auch die praktischen Ideen dafür.
Nach drei Monaten funktionierte Alles reibungslos, nämlich die innerbetrieblichen Fahrpläne für eine ganze Großstadt, mit täglicher, wechselnder Arbeitszeit, rund um die Uhr. Darin erschienen auch die vorgeschrieben Pausen, Ruhezeiten, Zeitzuschläge für den Nachtdienst, Sonn- und Feiertage. Die erfahrenen Fahrdienstleiter waren begeistert. Die direkt betroffen Fahrer auch.
Nur der ahnungslose Stellenleiter machte immer wieder störende Bremsversuche. Später sagte man ihm, die Reform wäre eigentlich seine Aufgabe gewesen, und er wurde kalt gestellt, hatte also keine Macht mehr und wurde Frührentner. Später war es manchmal umgekehrt, also noch schlimmer. Die faulen, hinterlistigen Erbschleicher, die Pöstchen-Erschleicher schoben ihren nickenden Lieblingen gern Vitamin B zu, also grundlose Beförderungen und gute Beurteilungen. Wer Etwas reformieren wollte, wurde gemobbt und heimlich schlecht gemacht. Landete man in in einer Abteilung mit schlechtem Ruf, konnte man dort immer handlungsunfähiger werden, aber daran nichts ändern. Wertvoll wurden dann die Erfahrungen, aus denen man immer mehr lernen konnte. So ähnlich war es auch im Privatleben. Viele schöne Menschen wollen gut leben, auf Kosten der anderen.
Der gewaltige Bekanntenkreis musste deshalb immer wieder gereinigt werden. Denn viel Masse ist nicht Klasse. Manche wurden problemlos abserviert, ohne Streit. Andere griffen lieber in die hinterhältige Trick-Kiste, aus Lügen, Verleumdungen und unverschämten Rachephantasien. Man konnte ihnen aus dem Weg gehen, aber sie spionierten auch dann noch herum. Unser Grundgesetz schützt seit 1949 die Privatsphäre, aber das ist Einigen egal. Als 1990 die östliche DDR zusammenbrach, wegen mangelnder Reformen und fehlender volkswirtschaftliche Kenntnisse der diktatorischen Staatsregierung, nutzte selbst die Totalüberwachung der Stasi („Staats-Sicherheit“) nichts mehr. Viele waren damals zwanzig Jahre alt, jetzt sind sie Fünfzig, noch lange nicht im Rentenalter.
Ich habe mich 1990 über die Einheit mit den Ossis gefreut, weil sie schreckliche Zeiten hinter sich hatten. Damals war ich, zwei gute Jahre lang, mit einem waschechten Sachsen befreundet, habe aber über seinen saftigen Dialekt nie gelacht. Weil sein Vater ein amerikanischer General war, der aus Italien stammte, sah er auch südlich aus. Dann sperrten die eiserne Zonengrenze und die Berliner Mauer Alles ab. Er kam nicht mehr heraus, sollte Russisch lernen, weigerte sich aber. Danach durfte er gar nichts mehr lernen. Arbeit fand er nur noch, als hart schuftender Betonarbeiter auf Baustellen. Gestritten haben wir uns, auch später nur ganz selten.
Eine Großstadt bietet viele Abwechslungsmöglichkeiten, und dann traf er selbst ganz andere Leute. Ich auch. Deshalb gab es kein böses Wort. Der Abschied ist ein Teil des normalen Alltags. Aber auch hier sind Manche schwerhörig und rachsüchtig, besonders die Faulen und Dummen. Die Polizei muss ja in hartnäckigen Fällen sofort eingreifen, weil Belästigungen und Stalking strafbar sind. Aber jeder anständige Mensch war, bis vor einem halben Jahr, selbst überlastet. Tag und Nacht.
Jetzt ist die große Stille eingekehrt. Sogar Spitzenpolitiker und Prominente tragen Gesichtsmasken, bevor sie endlich den Mund zum Schwatzen aufmachen. Viel zu lange.
Am Anfang des ersten Lockdowns, vor sechs Monaten, haben sogar die arbeitslosen Statisten gekichert und gern fremde Leute belästigt. Das ist vorbei. Aber man kann Etwas daraus machen. Wenn man kann. Und will. Darüber habe ich schon oft hier geschrieben, ganz konkret. Jeder muss aber seine Möglichkeiten und Grenzen selbst erforschen. Das fällt den lächelnden Freizeit-Akrobaten manchmal schwer.
Aber auch Täuschungsmanöver fallen immer schneller auf. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Vor dreißig Jahren sagte das der mächtige russische Parteichef Michail Gorbatschow. Zu seinem längst verbrauchten DDR-Kollegen Erich Honecker. Der flog danach einfach ab, ins Exil, nach Chile in Südamerika. Für immer. Gorbatschows wichtigste Stichworte wurden weltberühmt. Weil sie einfach und richtig waren. „Glasnost“ bedeutet Transparenz. Offenheit. Nachprüfbarkeit. „Perestroika “ bedeutet Fortschritt. Das hat er teilweise auch geschafft. Dann wurde er abgelöst.
Damals regierten im weltoffenen, demokratischen Italien fleißige Leute, die unermüdlich für die Auswanderung ihrer eigenen Wähler sorgten, nach Deutschland. Dort sind Viele gern geblieben. Die Guten und die Bösen. Das ist in allen Staaten so. Karl Valentin hat diese Lebenserfahrung in eine leicht verständliche Kurzform gebracht: „Die Menschen sind gut. Aber die Leute sind schlecht.“ Zu den ewigen, nicht ablösungsfähigen, stets überall auftauchenden Freunden der ewigen, immer noch nicht ablösungsbereiten Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte Karl Valentin nur einen einzigen, seiner vielen anderen Sprüche gesagt. „Es wurde bereits Alles gesagt. Aber noch nicht von Jedem.“ Er hätte das jeden Tag gesagt. Aber er ist schon 1948 gestorben.
Münster in Westfalen fand ich lange provinziell. Aber es war auch überschaubar und nicht so chaotisch wie eine Weltstadt. Das zuverlässige Wikipedia-Lexikon schreibt: „In Münster gibt es den Verfassungsgerichtshof und das Oberverwaltungsgericht. Im Jahre 799 gründete Papst Leo III. bei seinem Treffen mit Karl dem Großen das Bistum Münster. 805 wurde der heilige Ludgerus im Kölner Dom zum ersten Bischof von Münster geweiht.“
Das ist doch auch Etwas. Viele persönliche Bilder aus Münster werden immer stärker, aber sie mischen sich nicht ein. Konzentriert man sich darauf, werden sie glasklar. Auch der Hintergrund. Die Ursachen einiger Probleme. Deren Lösung ist längst Sache ganz anderer Leute. Damals gelang das auch nicht immer. Aber anderswo auch nicht. Gottfried Benn schrieb, „Meinen Sie vielleicht, Zürich wäre eine andere Stadt?“ Nein. Schon lange nicht mehr. Aber Hildegard Knef wusste das auch: „Eins und Eins das macht Zwei. Das Rezept wird Keiner ergründen. Und dann ist Schluss. “ Das gilt immer, aber man kann damit umgehen:
https://www.youtube.com/watch?v=GDpL_je2pEY
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