Das Paradies aus Stein und Kraft

20.8.2019. Mittelalterliche Kathedralen sollten ein Abbild des Paradieses sein. Ihre Türme ragten mit der Spitze zum Himmel. Das Innere der Gebäude bestand aus Kreuzbögen und Säulen, die das ganze Werk stützten. Die Säulen waren eine Erinnerung an alte Tempel wie den des Königs Salomos aus dem Alten Testament, dessen Reich geographisch nicht besonders groß war, der aber als Inbegriff der Weisheit bis heute verehrt wird. Vor seinem Tempel wachten die Säulen Boaz und Jachin darüber, wer die Räume betrat. Drinnen waren, auch in allen späteren Kathedralen, zahlreiche Ornamente aus Stein, lebensgroße Figuren von irdischen Herrschern und Heiligen. Außerdem farbige Glasfenster aus Hunderten kleiner Mosaiksteine, die wie ein Bilderrätsel (Puzzle) genau zueinander passen mussten, weil sonst die ganze aufwändige Gestaltung ihre Wirkung verlor. Die Farben leuchteten vor allem durch das beginnende Sonnenlicht im Osten. Deshalb standen die Haupt-Altäre auch immer in dieser Himmelsrichtung. Dahinter wachte oft, in einem goldenen Strahlenkranz, das „Auge Gottes“ , das bekanntlich Alles sieht, auch die geheimen Verbrechen.

Ausgedacht hatten sich diese Ideen gebildete Architekten. Für sie arbeiteten einfache, aber besonders begabte Handwerker. Sie gehörten zu keiner festen Firma, sondern suchten sich ihre Arbeitsplätze frei aus. Daraus enstand später der mächtige Bund der Freimaurer, der bis heute weltweit aktiv ist und Besuchern der Versammlungshäuser (Logen) offen Auskunft gibt. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Freimaurer haben dreiunddreißig Grade der reifenden Erkenntnis, die selbst den Eingeweihten auf einer höheren Ebene nur vorgelesen werden, um sie dann in den nächsten Rang nach oben zu befördern. Genaueres dazu kann man leicht im Internet finden, aber auch in seriösen Fachbüchern, wo jeder Erkenntnisgrad genau erläutert wird und auch seine Verbindung zu anderen berühmten Denkern und Herrschern bis in die frühe Zeit der ägyptischne Pharaonen. Vertieft man sich darin und auch mit den Querverbindungen zu entfernteren Wissensgebieten, steigert sich die Faszination immer mehr. Doch selbst einige erfahrene Hochgrad-Freimaurer hüllen heute noch einen Nebel-Schleier um die „letzten Geheimnisse“. Was sie damit meinen, ist auch für Interessierte längst frei zugänglich. Darum war ich im April 2011 sehr erstaunt, als ich mit einem hochrangigen Freimaurer im nördlichen Bayern über diese Dinge sprach. Er wusste davon Nichts. Es war auch nichts totals Ausgefallenes. Aber bei unserem nächsten Treffen bekam er einen heftigen Wutanfall und schrie mich in der Eingangshalle lautstark zusammen. Die Informationen kommentierte er nicht, aber den Boten, der sie ihm mitteilte, ließ er seinen Zorn so heftig spüren, dass ich ihn bat, zur Abkühlung mit an die frische Luft zu gehen. Dort standen wir auf der Eingangstreppe. Als ich fragte, „Habe ich etwas Negatives über euch gesagt?“, antwortete er, „Nein.“ „Dann geben Sie mir jetzt die Hand.“ Das tat er und war wieder genauso freundlich, wie er auch sonst auftrat. Anscheinend hatte ich ins innere Zentrum gezielt und getroffen. Eigentlich ein Anlass für weitere Gespräche und die einzige Absicht, die damit verbunden war. Aber das hat er verweigert.

Der berühmte Komponist Wofgang Amadeus Mozart ( 1756 – 1791 ) war Freimaurer in Wien. Bei seinem Tod war er erst 35 Jahre alt und hatte kurz vorher die Uraufführung seiner beliebten Oper „Zauberflöte“ miterlebt. Das reife Spätwerk ist voll von erstaunlichen Klängen, die man vorher bei Mozart nie gehört hatte. Der kurze Gesang der beiden „Geharnischten“ wird zum Beispiel begleitet von einer strengen Orchesterfuge im Stil Johann Sebsatian Bachs. Die Handlung schildert am Ende ausführlich die Aufnahmerituale der Freimaurer. Die Prüfungen mit den vier Urelementen Feuer, Wasser, Erde, Luft. Diese Abläufe waren vorher einer breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht bekannt gewesen. Die Freimaurer hüteten es als ihren kostbaren Wissens- und Erkenntnisschatz. Vermutlich waren sie nicht erfreut, dass jetzt und bis heute das gesamte Werk als beliebteste Oper dieses Komponisten gilt.

Um Mozarts unerwarteten Tod ranken sich viele Gerüchte und Theorien. In einem Kinofilm wird sogar sein Konkurrent in Wien, Antonio Salieri, als überführter Täter eines Giftmordsnschlags dargestellt. Tatsache ist, dass Mozart bei einem hastigen Begräbnis, an dem trotz seiner Bekanntheit nur wenige Trauergäste teilnahmen, er in einem anonymen Wiener Armengrab verscharrt wurde und den genauen Ort seiner letzten Ruhestätte bis heute Niemand kennt.

Natürlich gerieten auch die Freimaurer in das Visier von Verschwörungstheorien. Bewiesen wurde davon gar nichts. Falsche Gerüchte haben schon viel Schaden angerichtet.

Denn warum sollte es hier überhaupt um ein verratenes Geheimnis gehen? Die Rituale sind nur äußerliche Abläufe, die nichts über ihre innere Bedeutung aussagen. Denn das Entscheidende ist das Mysterium. Ein uraltes Phänomen auf allen Kontinenten. Rituale wurden schon in der fernen Frühzeit mit Chor und Musikbegkleitung ausgeführt, auch schon in der Zeit der altägyptischen Pharaonen, die ganz eigene Gebräuche hatten. Die gemeinschaftlichen Feierlichkeiten der Bevölkerung versuchten nicht, das Geheimnisvolle bis in die letzten Winkel grell auszuleuchten. Denn dann verschwindet es restlos und ist nicht mehr zugänglich. Das Mysterium verlangt Abstand. Respekt. Demut. Bei einer zu großen Annäherung löst es sich auf und ist nicht mehr als der kurze Morgennebel, der im Sonnenlicht verschwindet.

Wie geht man um mit einem Mysterium, ohne dass es Schaden nimmt?

Bei der Gründung der Vereinigten Staaten am 4.7.1776 trug der erste Präsident George Washington das Gewand der Freimaurer und bekannte sich damit offen zu ihnen. Luftaufnahmen der Hauptstadt Washington lassen erkennen, dass die architektonische Planung der Straßen viele Symbole der Freimaurer enthält. Ihre Arbeitsmittel bei den Versammlungen sind Zirkel, Maurerkellen und andere Bauwerkzeuge. Das Alles ist bekannt und kann in den öffentlichen Ausstellungen der Logengebäude angeschaut werden. Alle sonstigen Informationsquellen verheimlichen dazu auch gar nicht,s und man bekommt auf Wunsch ausführliche Erklärungen.

Die Gegenstände sind aber nur das Äußerliche. Es gibt eine riesige Literatur über die gedankliche Bedeutung des Materials und die Prinzipien der Brüderlichkeit, die auch der Freimaurer Friedrich Schiller so zusammenfasste: „Alle Menschen werden Brüder.“ – „Brüder, über dem Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Beethoven hat das als eigenes Schlusswerk vertont, in seiner neunten und letzten Sinfonie als „Ode an die Freude“, die jeder Musikfreund kennt.

Als Richard Wagner aus der Großstadt München vertrieben wurde, besuchte er auch Bayreuth, zunächst nur wegen des dortigen Markgräflichen Opernhauses. Er fand es für seine Zwecke ungeegnet, aber der damalig Bürgermeister Theodor Munckel und der Bankier Friedrich Feustel waren schon auf vorbereitet boten ihm das Geschenk der zwei kostenlosen Grundstücke für sein Wohnhaus Wahnfried und den Festspielhügel an, auf dessen Spitze Wagners Musiktheater immer noch unbeschädigt, auch nicht durch die letzten Weltkriegs- Bomben der Engländer, die ganze Stadt wie ein hellroter Tempel überragt. Bankier Feustel war Großmeister der damaligen Loge „Zur Sonne“. Der Komponist hatte starkes Inetersse an einer Mitgliedschaft, aber Feustel riet ihm ab, das gar nicht erst zu versuchen. Denn Wagner verstieß mit seiner Lebensweise gegen Prinzipien der Freimaurer. Er hatte eine geschiedene Frau geheiratet und pauschal abfällige Äußerungen über die Juden verbreitet.

Trotzdem kam es zu einer engen Zusammenarbeit. Das letzte Meisterwerk „Parsifal“ ist voller Hinweise auf Zeremonien der Freimaurer. Davor gelang sogar die Komödie der „Meistersinger“, mit einer Überfülle von Anspielungen auf Handwerker, Prüfungszeremonien, Zunftrituale, den festlichen Johannistag zum Gedenken an den „Täufer“, Zunftregeln in der Tabulatur, das hymnische Quintett „Selig wie die Sonne“, das Präsentieren der Handwerkerzeichen auf der Festwiese und das mystische Traumbild vom mittelalterlichen „Paradiesgarten“: „Morgendlich leuchtend im rosigen Schein.“ Das ist die Morgendämmerung, die in vielen Gemeinschaften, auch anderer Kontinente, eine wichtige Bedeutung hat. Und das Paradies selbst waren die Prunkbaute der mittelalterlichen Kathedralen, die von freien Maurern erbaut und von Meistern geplant wurden.

Auf diesen Handwerker-Beruf weist Wagners eigenes Textbuch an keiner einzigen Stelle hin. Erkannt wird dieses Detail nur von Wissenden, von Eingeweihten. Genauso wie die tiefe Verbeugung vor dem Großmeister Johann Sebastian Bach, den Wagner an keiner Stelle wörtlich erwähnt. Aber die Orchesterbegleitung zu den Zunftregeln ist eindeutig im Stil einer strengen Bach-Fuge Komponiert, ebenso die Prügelszene in der Johannisnacht, wo Alle aufeinander wütend losgehen, sich aber beim folgenden Anbruch des Johannistags friedlich zur gemeinsamen Festwiese versammeln. Der Komponist hat sogar am Anfang noch ein einsames Kunststück oben drauf gesetzt: In der einleitenden Ouvertüre erklingen drei Melodien gleichzeitig. Beim Kontrapunkt von Bach sind es immer nur zwei. Wagner triumphierte nach der Niederschrift dieser Noten: „DAS ist angewandter Bach!“

Die „Meistersinger“ stecken voller Rätsel und versteckter Andeutungen, die manchmal nur schwer zu entziffern sind, aber ihre Auflösung und Weitergabe hätte den Erfinder überhaupt nicht gestört. Im Gegenteil.

Seine letzten zehn Hauptwerke sind einerseits offen für Jeden und voll leicht verständlicher und beliebter Klänge. Andererseits bleiben sie ein Mysterium, das nicht aufgelöst werden kann, sogar sich bei allzu großer Neugier verweigert oder mit schlechten Musikern endlos langweilig wird. Die Antwort hat Wagner bei der Grundsteinlegung seines Festspielhauses handschriftlich notiert, allseits bekannt gegeben und den Zettel dann mit dem ersten Stein, dem Grundstein, einmauern lassen: „Hier schließ ich ein Geheimnis ein… So lange es der Welt sich zeigt, wird es der Welt nicht offenbar.“ Das heißt: So lange seine Werke der Welt nur gezeigt werden, also im Theater, sind sie austauschbare Äußerlichkeiten. Erst später, beim gründlichen Nachdenken und Erforschen ihrer Ideen, wird das Geheimnis erkennbar und ist nur für die Eingeweihten zugänglich. Es ist die höchste Stufe der Erkenntnis: Die Erleuchtung. So wie das Tageslicht am Mittag seine stärkste Kraft hat. Im „Parsifal“ sagt der Hüter des Tempels, Gurnemanz, zum neuen Gralskönig: „Mittag! Die Stunde ist da. Gestatte, Herr, dass dein Knecht dich geleite.“

Die Erleuchtung als letzte Stufe des Wissens nennt man auch „Unio Mystica“. Das ist die Vereinigung des Menschen mit den Zeichen Gottes, die er erkennen kann. Der Weg dorthin ist lang und schwierig. In Dantes „Göttlicher Komödie“ führt die Wanderung in drei Schritten aus der Hölle („Inferno“) zum Erklimmen des steilen Bergs der Prüfungen und Enttäuschungen („Purgatorio“) und zur letzten Station, dem Paradies („Paradiso“). Die Kathedrale des Mailänder Doms und auch vieler anderer Großkirchen des Mittelalters sind ein Bild dieses fernen Ortes, der nicht auf der Erde existiert, sondern in der Vorstellungswelt des Einzelnen. Dort findet man auch die Regeln für den Bau gewaltiger Gedankengebäude. Regeln, die für das ganze Universum gelten und deren Verletzung nicht unbestraft bleibt. Die Verfluchten stürzen ab in die Hölle. Die anderen leben bis an das Ende aller Tage in der Gemeinschaft der Gerechten, mit dem, der das Alles erschaffen hat.

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