Die geschlossene Schatzkammer, am Frankenwald

6.7.2019. Kleine Orte gibt es auf der ganzen Welt. Sie haben nur dann eine persönliche Bedeutung, wenn damit wichtige Erfahrungen verbunden sind. Im Lauf der Jahre kann sich der Wert sogar noch steigern. Dann will man nicht, dass sie ein Ziel des Massentourismus werden. Deshalb soll der Name des Orts hier nicht genannt werden, auch wenn es kein Geheimnis ist. Denn er liegt auf der Strecke zwischen München und Berlin direkt an der Autobahn, und Viele kennen ihn vom Vorbeifahren.

Seit dreißig Jahren bin ich dort gewesen, oft mehrmals im Jahr. Viele Ausflüge durch die ganze Region haben dort begonnen. Und dies Mal war es anders. Die fortschreitende Lebenszeit will keine oberflächliche Verschwendung, und für zwei Tage gab es genug zu schauen, zu erinnern und neue Gedanken zu finden.

Nürnberg war unterwegs der erste Aufenthalt. Direkt gegenüber vom Hauptbahnhof sieht man ein Schild „Handwerkerhof“ an der alten, fensterlosen Stadtmauer. Zu wenig Reklame, angesichts der vielen Reisenden, die gern eine Pause dort machen würden, wenn sie es denn wüssten. Denn direkt hinter der Mauer sind zwei altfränkische Gassen mit Kopfsteinplaster sorgfältig restauriert worden. Kleine Läden bieten klassische Handwerkskunst an, auch altes Blechspielzeug, unvergessen aus Kinderjahren. Zwei Wirtshäuser mit Fachwerk und Giebeldächern laden ein zu Rostbratwürsten oder „Sauren Zipfeln“ (gekochte rohe Bratwürste in heißem Zwiebelsud) und zum bekannten Wein. Bei strahlendem, wolkenlosen Himmel und einem frischen, kühlen Wind im Schatten konnte man dort lange sitzen und eigenen Gedanken nachhängen. „Liegt nicht in Deutschlands Mitte mein liebes Nürenberg…“ (Hans Sachs in den „Meistersingern“).

Später ging es weiter mit dem Regionalzug, dessen drei Waggons in drei verschiedene Richtungen fuhren: Nach Cheb (Eger) in Böhmen, nach Bayreuth (Endstation) und nach Hof. Wer nicht genau aufpasste, landete am falschen Ziel und musste sehen, wie er zurück kam.

In Bayreuth bin ich diesmal nur umgestiegen. Vom Bahngleis aus sah man das Festspielhaus. Aber es weckte keine Sehnsucht. Es ist nur noch ein altes Gebäude, ohne den Geist seines Gründers. Baulich wurde jahrzehntelang nichts renoviert, bis vor ein paar Jahren vor den überraschten Besuchern Ziegelsteine herunterfielen und Unfallgefahr bestand. Staatliche Zuschüsse hätten auch die Kosten für die Stadt überschaubar gehalten.

Doch das Geheimnis ist fort. Bei der Grundsteinlegung ließ Richard Wagner einen Zettel einmauern, mit seinem eigenen Text: „Hier schließ ich ein Geheimnis ein. Da ruht es hundert Jahr‘. So lange es der Welt sich zeigt, wird es der Welt  auch  offenbar.“

Seine zehn Meisterwerke werden dem weltweiten Publikum jedes Jahr als Auswahl gezeigt. Aber sie haben ihr Geheimnis verloren. Die letzte Inszenierung, die ich dort besucht habe, war Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“. Danach habe ich nie wieder eine Karte bestellt.

Nach dem Umsteigen brauste der Zug durch blühende Traumlandschaften. Wälder und Felder in den leicht auf- und abschwingenden Hügeln des Fichtelgebirges. Bevor der Frankenwald beginnt, tauchte das Ziel auf.

Der Ort hat viele Gemeinsamkeiten mit meinem westfälischen Geburtsort an der holländischen Grenze, im ländlichen Westfalen, der zwar im Flachland liegt, aber genau so herrliche Natureindrücke in der Umgebung hat. Beide Städte waren früher dominiert von der Textilindustrie, die Anfang der Achtziger Jahre bundesweit zusammenbrach, mit der Folge hoher Arbeitslosigkeit. Beide waren abgelegen von den unruhigen Großstädten. Franken war sogar als benachteiligtes Zonenrandgebiet direkter Nachbar von Thüringen in der strammen DDR. Mitten durch den Ort Mödlareuth führte sogar der ostdeutsche Stacheldrahtzaun, an dem auf Republik-Flüchtlinge scharf geschossen wurde.

Aber das Wichtigste sind immer Personen. In München laufen viele Auswärtige herum („Zugereiste“).

Vorgestern war ich drei Stunden zu früh angekommen und bin erst einmal durch die altvertrauten Gassen im Zentrum gegangen, wo ein schmaler Fluss von einem rotweißen Fachwerkhaus dominiert wird. Dort war auch dies Mal der Treffpunkt, für eine kurze Reise in die Gedanken der vielen vorherigen Jahre.

Zunächst war es nur ein Verweilen in der Ortsmitte, wo Alltagserlebnisse der letzten Tage ausgetauscht und dann über die früheren Jahre gesprochen wird. Es reicht, wenige Details der Gebäude ringsum wiederzusehen und sofort taucht auch über deren Innenleben eine Menge an Geschichten wieder auf. Die Hauptstraßen werden gerade erneuert, das heißt, man lässt alle vertrauten äußeren Fassaden fortleben und saniert nur das, was verrottet oder kaputt ist. So ergibt sich der erfreuliche Eindruck, dass Alles wie damals beim ersten Besuch aussieht und man auf trostlose Neubauten ganz verzichtet hat.

Zum Abendessen ging es auf buckeligem Kopfsteinpflaster den kleinen Berg hinauf, der einst dem Ort seinen Namen gab. Neben dem schiefergedeckten Rathaus ist eine Pizzeria, deren wenige Außentische heute leider schon reserviert waren Die Preise dort sind niedrig, weil sonst wohl auch die Einwohner wegbleiben würden, die sparen müssen. Das sonstige Freizeitangebot ist auch überschaubar. Deshalb fährt fast Jeder ein eigenes Auto, und auf den wenigen zentralen Straßen herrscht manchmal ein Verkehr wie in der Großstadt. Es gibt zwei gute Hotelrestaurants und Trinkstuben für unterschiedliche Gäste. Ein Hotelbesitzer brachte es morgens auf den Punkt, „Hier ist gastronomisch ein schwieriges Pflaster. Ich habe seit vierzig Jahren versucht, die jungen Leute anzulocken. Aber das ist nicht gelungen.“ Die solide Ausstattung seiner gemütlichen Gaststube mit Polstermöbeln kommt nicht überall an. Und ein hellsichtiger Taxifahrer erklärte, „Die jungen Leute sind alle weit weg gezogen. Geblieben sind nur die Älteren. Und diejenigen, die an Allem Schuld sind.“ Was der letzte Satz bedeutet, lässt sich in Kürze nicht erklären, obwohl es offensichtlich ist.

Immerhin haben die jungen Leute seit zwei Jahren ihr typisches Bistro am Fluss. Dort war am letzten Mittwoch, also nicht am Wochenende, draußen und drinnen alles besetzt, und dazu dröhnte laute Musik aus den Siebziger Jahren. Doch das bleibt unberechenbar, denn am nächsten Abend war kaum Jemand da. Das private Einkommen erlaubt nicht jeden Tag große Abenteuer.

Am nächsten Mittag ging es zum Waldstein. Das ist eine faszinierende Urlandschaft mit großen Granitfelsen. In der Näheren Umgebung sehr bekannt, aber wer nur auf der nahen Autobahn vorbeifährt, weiß davon nichts. Das ist auch mit dem Titel „Die geschlossene Schatzkammer“ gemeint. Wer nicht hinter die Oberfläche blickt und verweilt, kennt die inneren Geheimnisse gar nicht. Und davon ist die Region übervoll, kann aber nicht allein vom Fremdenverkehr leben. Die Industrie hält sich in Grenzen, stört auch nicht mit ihren kühlen Zweckbauten den weiten Panoramablick. Aber die höheren Einnahmen durch Löhne und Gewerbesteuern fehlen den Gemeinden, und ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Selbst ein weltweites Großereignis wie die Bayreuther Wagnerfestspiele ist auf eine Saison von fünf Sommerwochen begrenzt. Und den Rest des Jahres muss man sehen, wie man über die Runden kommt. Daran wird sich nichts ändern.

Ein anderer einheimischer Taxifahrer erzählte unterwegs, dass er jahrzehntelang Baumaschinen für die umliegenden Steinbrüche repariert habe. Und weil das nicht reichte, war er sogar in den damaligen Bergwerken des weit entfernten Ruhrgebiets im Einsatz.

Wenn man am Waldstein den Regionalbus verlässt, der nur zwei Mal am Tag verkehrt, muss man noch eine halbe Stunde bis zum Gipfel laufen. Dort gibt es die Ruinen eines „Roten Schlosses“, das wegen der Komplizenschaft mit Raubrittern im Jahr 1523 abgebrannt wurde. Geht man ein paar Meter weiter, kann man den steilen Felsweg zur „Schüssel“ hochklettern, einer Aussichtsplattform, von der aus man in alle Himmelsrichtungen weit über das Land blicken kann.

Zu ebener Erde hat der Fichtelgebirgsverein ein rustikales „Waldsteinhaus“ gebaut, wo man übernachten und bei schönem Wetter unter den roten Sonnenschirmen einer hellen Besucherterasse essen und trinken kann. Am Nebentisch fiel ein einzelner junger Wanderer auf, der aufmerksam in Karten blätterte, aber trotz des steilen Anstiegs überhaupt nicht angestrengt aussah. Er trug einen aufwändigen langen Haarzopf, der bis zu den Hüften reichte und dazu einen schicken scharzen Modehut. Veilleicht war es gar kein Wanderer, sondern in der Nähe fanden Fotoaufnahmen für eine bekannte Münchner Trachtenfirma statt. Es war ein Bild wie aus einem Katalog, nur die Preisschilder fehlten. Als er fortging, habe ich seinen schicken Hut gelobt. Und das hat ihn gefreut.

Der späte Nachmittag verging wieder in der Ortsmitte, die dreißig Jahre lang der Beginn von vielen Entdeckungsreisen in der Region war, deren „geschlossene Schatzkammern“ ein wahres Wunderwerk an alten Städten und Landschaften sind, für die man sich immer gern viel Zeit nahm, um ihr Inneres genauer zu erforschen. Die Gesamtschau ist so vielseitig und faszinierend, dass man in keinem Augenblick die großen Weltstädte wie London und Wien vermisste, die allerdings einen ganz eigenen, unvergesslichen Platz in der Erinnerung haben. Trotzdem könnte die nordbayerische Region einen stärkeren Aufschwung vertragen und auch bekommen.

Zunächst die materielle Seite. Das meiste Geld bringen die Industrie oder Großfirmen. Der unvergessene Ministerpräsident Franz Josef Strauss besuchte regelmäßig die fränkischen Wagnerfestspiele. Sein ganzes Regierungskabinett musste mit. Der damalige Oberbürgermeister Wild nutzte schlau die Gelegenheit aus, um dem mächtigen Politiker eine richtige Universität für seine Stadt abzuschwatzen, die es vorher noch gar nicht gab. Damals wurden auch breite Autostraßen durch die Altstadt gesägt, und das Geld dafür kam wohl auch aus der Staatskanzlei. Völlig legal.

Doch diese Sternenkonstellation existiert längst nicht mehr. Die reichen Festspielbesucher geben ihr Erspartes lieber für andere Dinge aus, und die Besuchertendenz ist angesichts der künstlerischen Missgriffe eher rückläufig. Wer will sich schon in ein sommerlich überhitztes Haus fünf Stunden lang in enge Sitze quetschen und dabei einschlafen?

Eine Faustregel gilt immer: Große, erfolgreiche Firmen können jederzeit Filialen auf dem Land bauen, denn zum Beispiel die Computerbranche ist von der Geographie und vom Klima völlig unabhängig. Dazu braucht man aktive Vermittler und einen verlockenden Ruf. Sonst bleibt Alles beim Alten.

https://luft.mind-panorama.de/category/5-oekonomie/

Die zweite Kategorie ist von geistiger Art. Wer wenig Geld hat, kann auch nicht viel ausgeben. Die Arbeitslöhne und die sonstigen Kosten sind in Franken vergleichsweise niedrig. Das könnte Investoren bringen, die nicht nur an schnell zusammengerafftes Geld denken, sondern die vorhandenen Landschaften und Orte schonen und mit der vorhandenen Substanz ausbauen. Teure Standorte werden trotz hoher Nachfrage immer weniger und unbezahlbarer. Außerdem gibt es für benachteiligte Regionen gute Zuschüsse aus Berlin und Brüssel. Wenn deren Wert steigt, hebt sich synchron auch das Gesamtniveau an.

https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/gleichwertige-lebensverhaeltnisse-100.html

„mdr aktuell“ erklärt darin unter Anderem: “ Die Bundesregierung will verschuldete, strukturschwache und anderweitig benachteiligte Regionen in Deutschland stärker unterstützen als bisher. Fördergelder sollen nicht mehr vorwiegend nach Ostdeutschland, sondern etwa auch in ärmere Gebiete in Westdeutschland fließen. Das Ziel ist, den Menschen die Möglichkeit zu geben, in ihrer Heimat zu leben. Horst Seehofer, CSU Bundesinnenminister: ‚ Dazu müsse die Strukturpolitik und die Förderpolitik in Deutschland neu justiert werden. Wenn unterschiedliche Lebensverhältnisse zum Nachteil für die Menschen würden, müsse sich die Politik kümmern.‘ „

Das Thema beherrschte gestern Abend auch die Fernsehnachrichten. Allerdings ohne den Hinweis darauf, wer hier mal wieder den alten Motor in Bewegung gesetzt hatte. Denn mein Artikel ist vier Tage vorher erschienen, am 6.7.19. Aber die Politiker waren begeistert, dass sie mitten im Sommer ein Thema hatten, das überall für Beifall sorgte. Gezeigt wurden gestern im Fernsehen, zur Ablenkung, nur klagende Einheimische in der Oberpfalz, die immerhin, nicht zufällig, der direkte Nachbar von Franken ist. Und Ministerpräsident Markus Söder, der sogar aus der Metropole Nürnberg stammt, war dabei überhaupt nicht zu sehen. Dabei war er vorher sogar einmal „Heimatminister“ gewesen.

Leider passiert solche, ausnahmsweise schnelle“Ideenverwertung“ nicht zum ersten Mal. Nur ein Beispiel: Als die Stadt Bayreuth vor ein paar Jahren das historische Wahnfried-Areal erneuerte, wurden auch drei Ideen von mir verwendet, die ich seinerzeit oft wiederholt hatte. Vorher. Die Spurenverwischerei nützt jedenfalls nichts, denn das Alles ist damals auch vollständig gespeichert und dokumentiert worden.

Ganz spontan fällt mir dazu ein Gedanke des einheimischen Dichters Jean Paul ein: „Bayreuth ist eine schöne Stadt. Wenn nur die Bayreuther nicht wären !“ So pauschal stimmt das nicht. Aber man kann daraus eine Regel ableiten:

In hochbezahlten Machtpositionen sitzen auf der ganzen Welt Personen, die unfähig, aber gut „venetzt“ sind. Man muss sie nur auf Plätze versetzen, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können. Das löst automatisch große Verbesserungen aus. Genau so habe ich auch meine Artikelserie über das verarmte Süditalien im Detail begründet. Zum Beispiel hier: „Die finanzielle Rettung Italiens“ am 24.5.2019:

https://luft.mind-panorama.de/die-finanzielle-rettung-italiens/

Trotzdem kann man bei solchen Gedanken auch noch Hoffnung finden. Zum Beispiel beim Frankenlied mit dem Text Viktor von Scheffels: “ Zum heilgen Veit vom Staffelstein komm ich emporgestiegen und seh die Lande um den Main zu meinen Füßen liegen: Von Bamberg bis zum Grabfeldgau umrahmen Berg und Hügel die breite, stromdurchglänzte Au. Ich wollt, mir wüchsen Flügel ! „

https://www.youtube.com/watch?v=SLrRvKZSA8I

Als die antiken Machtzentren Athen und Rom sich im Mittelalter nach Nordeuropa verschoben, wurde das Frankenreich enflussreich und mächtig. Spätere Verunglimpfungen wie „Bayrisch Sibirien“ oder die von Bayern vereinnahmten „Beute-Franken“ sind ein paar Nummern zu klein geraten.

Das Geld wird überall knapper. Damit können die Meisten gut leben, wenn sie ihre materialistische Denkweise ändern und sich mehr auf das Innenleben der Dinge konzentrieren.

Das Lied vom hellen Strand der Saale hat eine besonders innige Melodie:Auf einigen Volksfesten singt man das immer noch. Und hier hört man den Dresdner Kreuzchor: „An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn. Ihre Dächer sind zerfallen, und der Wind streicht durch die Hallen, Wolken ziehen drüber hin.“

https://www.youtube.com/watch?v=1u70GH3_zog

 

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