9.12.2019: Die Bedeutung einzelner Wörter ist selten eindeutig. Je nach Zusammenhang oder Tonfall können sie auch völlig Gegensätzliches ausdrücken. Zum Beispiel „Heimat“. Das war früher das Land, in dem Jeder aufgewachsen war. Heute befindet sich diese Gegend dort, wo man sich wohl fühlt. Das kann ein Ort sein, ein Gebäude oder eine Gruppe von Menschen, die man gern trifft, weil man gemeinsame Themen hat und sich vertraut. „Kalte Heimat“ nannten wir vor vielen Jahren die Region, aus der die Ostflüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten, um im Westen eine neue Heimat zu finden. Aber auch die Zielorte der Neuankömmlinge, wo sie oft nicht willkommen waren, weil man um die eigenen Arbeitsplätze fürchtete und das Geld zunächst gerade für die bereits vorhandenen Einwohner ausgegeben werden sollte. Meinten Viele.
Das Gegenteil von Geborgenheit und Heimat ist „unheimlich“. Das sind Orte, wo man sich nicht wohl fühlt und die anderen Leute auch mit finsteren Mienen herumlaufen. Ein beliebter Stoff für Gruselfilme, denen aber wegen zu viel Wiederholungen längst der Stoff ausgegangen ist. Ein Ausnahmefall sind die Filme von Alfred Hitchcock, die mit lautstarken Schockeffekten eher sparsam sind. Typisch dafür sind unauffällige Gegenden, in denen plötzlich Auffälligkeiten passieren. Der Zuschauer braucht dabei nicht ungeduldig zu werden, denn in vielen Handlungen wird schon nach wenigen Minuten das Rätsel gelöst, der Täter gezeigt, und die Spannuntg entsteht daraus, dass die Filmhelden völlig ahnungslos sind und Jeder ihnen dabei zuschauen kann, wie sie die Geheimnisse lösen.
Ein Geheimnis muss nicht zwangsläufig unheimlich sein. Es gibt drei Sorten: Die persönlichen Privatgeheimnisse, die vom Grundgesetz geschützt sind. Dann die Berufsverschwiegenheit, die es Ärzten, Rechtsanwälten und Firmenleitungen verbietet, internes Wissen an geschäftliche Konkurrenten oder andere Neugierige weiterzugeben, die damit erheblichen Schaden anrichten können. Sehr verbreitet sind auch die Geheimnisse, die Straftaten vertuschen und Spuren verwischen sollen. Wenn sich in einer großen Firma neben dem verantwortlichen Vorstand eine zweite Ebene etabliert hat, die aus Beziehungen und Schiebereien sich immer mehr aufbläht, bekommen die meisten anderen Mitarbeiter nicht mehr das Geld, das ihnen aufgrund ihrer täglichen Leistung gesetzlich zusteht. Der Gründer des früheren Enthüllungsmagazins „Spiegel“, Rudolf Augstein, schrieb einmal: „Wo viel Macht und Geld ist, herrscht auch das große Verbrechen.“ So pauschal ist das nicht richtig, aber zu seinen Glanzzeiten vor sechzig Jahren zitterte das politische Deutschland vor der Montagsausgabe des Blattes. Dort war manchmal nur ein Porträtfoto abgebildet, zum Beispiel von bekannten Wirtschaftss- und Konzernlenkern. Und drin im Heft ging es konkret zur Sache. Mittags haben die Betroffenen oft noch Alles dementiert, und abends waren sie bereits überführt.
Diese Art von Enthüllungsjournalismus muss man nicht mögen. Ich lehne solche Methoden ab, genauso die Technik, Anderen hinterher zu spionieren, um irgendetwas herauszubekommen. Es gibt genug öffentliche Informationsquellen, und in dem Wasserfall von Daten haben Viele den Überblick verloren. Sie können Wichtiges und Unwichtiges nicht mehr trennen und kommen zu Falschbewertungen. Dabei ist Bewerten und Auswählen der Schlüssel zum Erfolg: Jeder Ablauf hat Gesetzmäßigkeiten, und wenn sie nicht beachtet werden, fällt das auf. Weil es dafür Ursachen gibt, sind viele ungelöste Fälle in Wirklichkeit gar nicht richtig verstanden worden.
Auch jetzt besteht kein Interesse daran, irgendjemand ins Licht der neugierigen Öffentlichkeit zu zerren. Jeder Interessenkonflikt lässt sich dämpfen oder lösen, wenn nicht Alles an die große Glocke gehängt wird.
Die Zauberformel heißt Diskretion. Man muss nicht Alles herumposaunen, was man tagtäglich zu hören oder zu sehen bekommt. Viele Themen sind für Zeitgenossen nur teilweise verständlich, weil sie davon wenig Ahnung haben. Aber trotzdem wird gequatscht und getratscht, am liebsten, wenn die Betroffenen gar nicht anwesend sind. Wichtigtuereien, Boshaftigkeit und Hinterlist mischen dabei mit.
Es ist aber auch immer wieder überraschend, wenn unbekannte Leute mit einem Spezialwissen erkennbar werden, das sie nicht mit Jedem teilen können, mangels geeignetem Publikum. Sie lassen manchmal nebenbei Stichworte fallen, die selbst zwanzig Mithörer an einer Biertheke für unwichtig halten. Hakt man dann etwas genauer nach. sprudelt auf einmal ein lang verschütteter Brunnen und im Austausch von Details öffnen sich Türen, die verschlossen waren, aber hinter denen sich noch andere Türne befinden. Doppelte Tore in einfachen Fällen. Und manchmal zeigt sich ein weites Panorama, ein eigenes Universum, das man vorher selbst nur bruchstückhaft kannte.
Manchmal erschrecken solche Leute, weil sie ein Sonderwissen haben, das sie mit niemand teilen wollen oder sollen. Aber im Lauf vieler Jahre kann man das voraussehen und sofort reagieren, wenn ein Misstrauen oder eine Verärgerung entstehen. Das lässt sich auch schnell klarstellen, und wer gute Erfahrungen damit hat, bekommt das, was sonst schneller zerstört werden kann als ein Glas: Vertrauen. Das kann man nicht schauspielern, aber beweisen, wenn es später auch einer Überprüfung standhält. Ein sehr alter Opernfreund kommentierte kürzlich ein paar alte Anekdoten aus der Welt der Musik damit, dass er meinte, ich hätte mehr Ahnung davon als er selbst. Das stimmte natürlich nicht, denn er kannte viele berühmte Dirigenten und Sänger persönlich und hatte sie viele Jahre auch privat erlebt. Das war leicht richtig zu stellen. Und danach hat sich das Klima an dem Tag auch noch etwas verbessert.