25.11.2021. Zu den grenzenlosen Einfällen von Richard Wagner gehört der erste Akt der „Walküre“. Es wäre schade, wenn man alles andere vergisst, aber hier hat er sich, wie so oft, selbst übertroffen. Nur zwei Personen füllen die ganze Handlung aus, eine dritte verschwindet nach ein paar Minuten. Nur die Hausherrin Sieglinde kommt zurück. Mitten im Raum steht während der ganzen Zeit die Weltesche, das Zeichen der universalen Weltordnung. Im Stamm steckt ein großes Schwert, das nur der Stärkste herausziehen kann. Er ist schon da, Sieglindes verschollener Zwillingsbruder Siegmund, aber er weiß es noch nicht. Plötzlich blitzt das Eisen im nächtlichen Mondlicht, und er spricht mit sich selbst. Den Schwert-Monolog:
°Welch ein Strahl bricht aus der Esche Stamm?
Des Blinden Auge leuchtet ein Blitz: Lustig lacht da der Blick.
Ist es der Blick der Blick der blühenden Frau,
den dort haftend sie hinter sich ließ, als aus dem Saal sie schied?
Nächtliches Dunkel deckte mein Auge. Ihres Blickes Strahl streifte mich da.
Wärme gewann ich und Tag. Selig schien mir der Sonne Licht;
den Scheitel umgliss mir ihr wonniger Glanz, bis hinter Bergen sie sank.
Noch einmal, als sie schied, traf mich abends ihr Schein.
Selbst der alten Esche Stamm erglänzte in goldener Glut:
Da bleicht die Blüte, das Licht verlischt. Nächtliches Dunkel deckt mir das Auge.
Tief in des Busens Berge glimmt nur noch lichtlose Glut.“
Wenn man dazu die Musik hört, ist sie nicht mehr zu übertreffen. Fanfaren mit Trompeten. Rauschende und leise wieder verhallende Violinen. Dazu Melodien, die man nicht mehr los wird. Eine einzige Steigerung, in sechzig Minuten. Der berühmte italienische Tenor Mario des Monaco hat das 1966 in der Stuttgarter Oper gesungen, seine einzige Partie, vollständig in deutscher Sprache. Dazu gab es hier am 6.11.21 den Artikel „Mario del Monaco“ :
https://luft.mind-panorama.de/mario-del-monaco/
Zu diesem ersten Akt gibt es auch eine unübertreffliche Studio-Aufzeichnung. Am 11.9.21 schrieb ich dazu den Kommentar „Aus der Steinzeit der Musikaufzeichnungen“ :
https://luft.mind-panorama.de/steinzeit/
Zitat: „In Wien entstand am 22.6.1935 eine Studio-Aufnahme des ersten Aktes von Wagners „Walküre“, die seitdem alle Vergleiche mühelos übertrifft. Bruno Walter als leidenschaftlicher Dirigent. Lotte Lehmann als hellwache, glasklare Sieglinde. Lauritz Melchior (Siegmund) hatte eine Riesen-Stimme, von Natur aus, aber auch wenn er leise sang, entfaltete sich ein ganzer Kosmos.“ :
Im Jahr 1966 habe ich, auch das, zum ersten Mal gehört. Und seitdem immer wieder. Dafür ist kein Abspielgerät mehr notwendig, denn jeder einzelne Augenblick ist im Gedächtnis gespeichert.
Und tief im Unterbewusstsein. Dort landen alle starken Erinnerungen. Manchmal lösen sie Störungen aus, die man mit den Methoden der Psychoanalyse beseitigen kann. Und manchmal steigern sie die Lebenskraft, die universale Energie.
Am 9.6.2002, vor 19 Jahren, habe ich im Bayreuther Antiquariat „Hagen“ eine Original-Lithographie von Franz Stassen gekauft, mit dem zentralen Motiv des ersten Aktes. Es zeigt, wie Göttervater Wotan das Zauberschwert in den Stamm der Weltesche hinein stößt. Hinter ihm eine feiernde Hochzeitsgesellschaft und das unglückliche, frisch verheiratete Paar Hunding und Sieglinde, die ihren verschollenen Bruder vermisst.
Unter dem Bild steht ein Zitat aus dem ersten Akt der „Walküre“. Sieglindes Erinnerung, an die traurige Hochzeit: „Ein Fremder trat da herein: Ein Greis in blauem Gewand. Auf mich blickte er. Und bltzte auf Jene, als ein Schwert in den Händen er schwang. Das stiess er tief in der Esche Stamm. Bis zum Heft haftete es drin. Dem sollte das Schwert gehören, der aus dem Stamm es zieht.“