16.9.2019. Am letzten Wochenende gab es das jährliche Straßenfest am Gärtnerplatz und in den umliegenden Straßen. Vor dem Musiktheater stand eine große, überdachte Bühne. Ringsum viele Bänke und Biertische wie beim Oktoberfest. Jeder konnte dort hin, aber die Chance ist groß, Jemand zu treffen aus dem Bereich der Musik. Da setzte sich gleich ein älterer Herr dazu, und es war ein Insider der Münchner Staatsoper. Er lachte schallend, als ich ihn als Kulturminister ansprach. „Das bin ich nicht. Wie heißt der denn überhaupt?“ „Weiß ich auch nicht. Ist nicht so wichtig.“ Wir haben uns dann längere Zeit über die wechselhafte Geschichte der Staatsoper unterhalten. Die Intendanten August Everding und seinen Nachfolger Peter Jonas, der den Regisseure ein derartiges Übergewicht verschaffte, dass die Werke manchmal dabei auf Strecke blieben, nicht mehr erkennbar waren oder einen völlig neuen Sinn bekamen. Er fragte, „Was halten Sie vom jetzigen Chef Klaus Bachler?“ „Ich gehe schon seit Jahren nicht mehr in die Oper. Zu Hause kann man sich die besten Inszenierungen auf DVDs anschauen, jederzeit unterbrechen oder etwas Anderes aussuchen.“
Der jetzige Intendant am Gärtnerplatz, Josef E. Köpplinger, liebt die Operette und hat ein sichere Gespür dafür. Nicht für den Plüsch und alten Staub des 19. Jahrhunderts, sondern für das Nachempfinden einer im Ersten Weltkrieg untergegangenen Zeit, die eigentlich schon längst vorbei ist.
Hitlers Lieblingsoperette war die „Lustige Witwe“. Jedes Mal, wenn er in München war, setzte man auf den Spielplan des Gärtnerplatztheaters dieses Stück. Der Komponist Franz Lehar war mit einer Jüdin verheiratet und hatte jeden Morgen Angst, dass die allgegtenwärtige Gestapo sie abholt. Hitler hat ihm diese Angst nie genommen, aber geschehen ist auch nichts. Denn der Skandal wäre größer gewesen als jeder andere Theaterskandal. Die Hauptrolle in dem Stück sang viele Jahre am Gärtnerplatz der aus Holland gebürtige Johannes Heesters. Propagandaminister Joseph Goebbels meinte einmal zu ihm, „Sie verdienen Ihr ganzes Geld in Deutschland. Warum haben Sie immer noch keinen deutschen Pass?“ „Warum werden Sie nicht Holländer, Herr Minister?“
Den Hinweis auf das vorher übersehene Gärtnerplatzfest bekam ich nachmittags von einem bekannten Münchner Gastwirt. Vorher, gegen zehn Uhr, war ich in einem Haidhausener Bistro und kam dort mit einem älteren Herrn ins Gespräch. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass in dem sonst recht stillen Lokal diesmal schon zu früher Stunde vier Tische von jungen Leuten besetzt waren, die in dreifacher Lautstärke mit einander sprachen und mit den Händen wedelten. „Das ist eine Aktion der Vesteckten Kamera.“ Solche Statisten werden vorbereitet von Spezialtrainern, die sich „Coach“ nennen, wie im Fußball Die Auftritte werden gefilmt von dreidiemsionalen Hologramm-Kameras, die nicht nur die Realität perfekt aufnehmen, sondern auch eine Nachbarbeitung im Studio möglich machen, bei der anwesende Personen äußerlich total verändert werden oder sogar Mitmenschen anwesend sind, die in Wirklichkeit ganz woanders sind, aber täuschend echt dabei sind. Damit kann man natürlich ahnungslosen Menschen schaden, aber die Zeitungen berichten längst über solche neuen Formen des Verbrechens.
Mein Gesprächspartner war Spezialist für dreidimensionale Architekturzeichnungen, aber hatte sie noch mit traditionellen Methoden ausgeführt, also mit Bleistift und Zeichenbrett. Der ältere Herr war tasächlich verblüfft, was heute so Alles möglich ist. Zum Beispiel die Entstehehung ganzer Stadtviertel nach Computermodellen, bei denen alle Häuser, innen und außen, gleich aussehen und kein Gesicht mehr haben, also eine individeulle Fassade. Das spart natürlich Geld und Phantasie.
Noch besser hörte man das in dem Stehcafé, nicht weit vom Gärtnerplatz. Dort plauderte ein Baufachmann bei einem anregenden Aperol Sprizz, wie man Baugenehmigungen bekommt. Das weiß ich selbst nach zwanzig Jahren Berufserfahrung. Er hatte aber eine Menge eigener Geschichten auf der Palette. Zum Beispiel ist weitgehend unbekannt, dass in München die Lokalbaukommission bei Neubauten das letzte Wort hat. Wenn sie eine Genehmigung erteilt, kann sie später nichts mehr daran ändern, denn sonst hat der neue Besitzer einen Anspruch auf Schadensersatz. Wenn zum Beispiel vergessen wird, in den Baugenehmigungen auch einen Lärmschutz für dicht besiedelte Wohnhäuser in der Nachbarschaft zu vermerken, dann sind Änderungen für die Mieter schwierig, auch wenn sie einen Anspruch auf jederzeitige Nutzung ihrer Wohnräume haben. Die Lokalbaukommission (LBK) müsste dabei nur ihre bisherige Praxis ändern, denn Entschädigungsansprüche der Mieter, auch über systematische Lärmbelästigung, können sehr teuer werden und Recherchen auslösen für die nächsten Presse-Schlagzeilen, die das gesamte Thema bereits immer häufiger analysieren und die allseits bekannten Verantwortlichen beim Namen nennen.
Stattdessen kann man sich eigentlich mit viel schöneren Dingen beschäftigen. Die Seefestspiele im österreichischen Mörbisch pflegen auch noch die alte Operetten-Tradition. Hier sieht man den CanCan aus der „Lustigen Witwe“: