23.9.2021. Die bayerischen Alpen sind ein Ziel für den Massentourismus, aber es gibt genug Geheimtipps, um Belästigungen zu vermeiden. Wenn man sie aufzählt, ist damit zu rechnen, dass sie bald keine Geheimtipps mehr sind. Attraktiv und flächenmäßig viel größer ist es „ganz oben“ in Bayern, im Frankenland, das wegen seines Klimas auch „Bayerisch Sibirien“ heißt. Die Gastronomie dort ist gut ausgebaut, aber nicht überfüllt und überlaufen. In München leben Einwanderer aus dieser herzhaften Gegend. Schon nach den ersten vier Monaten, im Januar 1988, ergaben sich persönliche Kontakte. Seitdem war ich jedes Jahr in Oberfranken, manchmal sogar mehrmals. Die Ausflugsmöglichkeiten sind grenzenlos. Jedes Jahr habe ich einen ausführlichen Reisebericht geschrieben, mit Fotos und eigenen Filmen ergänzt. Nach über dreißig Jahren hat sich auch dieses Thema gedämpft, bleibt aber unvergesslich, im Guten wie im Bösen.
Schaut man auf eine Seite Papier mit einer vollständigen Weltkarte, scheint die Region sogar der Mittelpunkt der Welt zu sein. Adolf Hitler hielt in Nürnberg seine großen Parteitage ab. In Wagners „Meistersingern“ sagt der alte, weise Hans Sachs: „Liegt nicht in Deutschlands Mitte mein liebes Nürnberg?“ Ich habe meine private Perspektive immer ergänzt durch Bücher und sonstige Informationen. Daraus ergibt sich ein gewaltiges Panorama. Es erweitert sich bis ins Unendliche, wenn man an Richard Wagner denkt. Seine Kunst ist an keinen festen geographischen Ort gebunden. Er selbst wollte in München bleiben, wo ihn der Märchenkönig Ludwig II. unterstützte vor Allem auch finanziell. Bei ihrer ersten Begnung in der königlichen Residenz sagte der König: „Von heute an werden Sie keine finanziellen Sorgen mehr haben.“ Trotzdem befahl er ihm, an einem Unglückstag, sofort die Stadt für immer zu verlassen. Wagners heimliche Geliebte Cosima war die Ehefrau des Meistersirigenten Hans von Bülow (1820 – 1894), der auch die umjubelten Uraufführungen von „Tristan“ und „Meistersingern“ leitete. Wagner hatte den König angelogen, und das kam auch heraus. Trotzdem blieb es bei der finanziellen Unterstützung.
Im oberfränkischen Bayreuth bot die Stadt sofort Geschenke an für Wagner: Ein kostenloses Grundstück für seine Privatvilla „Wahnfried“. Und das Grundstück des Festpielhauses, das nicht zufällig auf einem hohen „Grünen Hügel“ die ganze Stadt überragt und am Haupteingang zwei Säulen hat, wie bei einem Tempel. Äußerlich schmucklos, wie eine Scheune auf dem Lande. Innerlich eine exakte Kopie des Zuschauerraums im Münchner Prinzregententheater.
Nach der Eröffnung 1876 strömten Besuchermassen aus aller Welt zu den fünfwöchign Festspielen. Sie sind nicht immer gebildet und reich. Die Kunst spielt deshalb nicht immer die Hauptrolle. In der „Götterdämmerung“-Pause 2009 habe ich mich an einem Stehtisch mit drei älteren Besuchern angenehm unterhalten und, nur als kurzer Test, gefragt: „Um was geht es eigentlich in dem langen Stück?“ „Das wissen wir auch nicht so genau, aber wir kommen schon seit dreißig Jahren.“
Das Geld spielt im Leben immer eine große Rolle. Der freie Pausenbereich in Bayreuth ist sogar öffentlich zugänglich, aber sehr viele Polizisten in unauffälliger Zivilkleidung beobachten die Zuschauer ganz genau. Deshalb sind offen erkennbare Sicherheitskräfte eigentlich überflüssig und wohl auch zu auffällig. Wenn man eine zweite Karte vor der Theaterkasse verkaufen will, nimmt sie aber gern ein Sitznachbar, der in den Pausengesprächen als Polizist erkennbar ist und die Stücke sogar kennt. Gedankliche Tiefenbohrungen stoßen dabei aber manchmal ins Leere. Das ist in allen Opernhäusern so. Dann sind es meistens erfahrene Raubfische, die nach einer fetten Beute suchen. Einen reichen, möglichst älteren Lebenspartner oder eine kostenlose Einladung zum gemeinsamen Essen. Wer dabei enttäuscht, muss mit Racheverfolgung rechnen, vor Allem in den Opernpausen, wo Viele zuhören und so tun, als ob sie Alles glauben. Ich habe solche Warnungen von Zeugen bekommen, die persönlich dabei waren, immer wieder.
Aber das ist der Alltag, nicht die Welt der großen Klänge. Alkohol ist ein legales Rauschmittel. Sonstige Beispiele sind zu Recht verboten. Aber für die Wagnermusik braucht man keine künstlichen Paradiese. Es passiert zwar nur selten, aber nach einer guten Aufführung habe ich manchmal Zeit gebraucht, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Denn die optischen Symbolbilder werden von musikalischen Wellen übetroffen, die mit einem Ozean vergleichbar sind. Sonst ist es endlos langweilig. Allein optische Fehler reichen dazu, den Zuschauerraum in der ersten Pause zu verlassen. Beim „Siegfried“ 2009 drohte meine Begleitung sogar mit einer sofortiger Abreise, aber wir landeten noch in einem Geheimtipp, wo die örtliche Spitzn-Prominenz gemeinsam an einem einzigen Tisch neben uns saß, während das sonst ausreservierte und voll besetzte Lokal menschenleer war. Die Überraachung war so gelungen, dass es uns erst einmal die Sprache verschlug. Nur zum damaligen Hausanwalt, dem Rechtsanwalt Stefan Müller, sagte ich, „Wissen Sie, was das Wort Äquivoca bedeutet?“ Das hat ihn geärgert, und er kam mit einer Gegenfrage, „Warum fragen Sie mich das?“ Ich habe darauf nicht geantwortet, aber es war sein unbekanntes Pseudonym, in einem Internetforum zum Thema Wagner, dessen Hauptpersonen ich nur aufgrund ihrer eigenen Wortmeldungen erkannt habe. Die höfliche Antwort war deshalb nur, aber sachlich richtig: „Äquivoca bedeutet gleichstimmig.“
Herr Müller ist leider noch im gleichen Jahr verstorben. Ich denke gern an ihn zurück.
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