Gesichter Oberfrankens. Der letzte Besuch in Oberfranken ist lange her. Das war im August 2012, mit einem Tagesausflug nach Kulmbach. In Oberfranken die Wurzeln des Inneren berühren. Jetzt sind es vier Tage, voll starker, eigener Bilder der Region statt den Abstumpfungen der gewohnten Alltagsrealität, vor allem seit den ersten Besuchen 1981 und dann in vielen Jahren ab 1989 auch der Wunsch, darüber zu schreiben
11.11.2014. Dienstag. 12.44 Uhr fährt der ICE nach Nürnberg ab und hält lange in Augsburg. Die übliche Fahrzeit von einer Stunde verdoppelt sich fast, bis 14.30 Uhr. Die Weiterfahrt wird zum unklaren Lotteriespiel. Planmäßig fährt der Anschlusszug eigentlich um 16.42 Uhr auf Gleis 19. Dann verweist eine Lautsprecherdurchsage plötzlich auf Gleis 20. Dort erscheinen auf beiden wechselnden Hinweistafeln real unmögliche Mitteilungen auf einen zeitgleichen Zug zum oberpfälzischen Amberg. Danach geht der Irrweg weiter zum Gleis 16, wo mit dreißigminütiger Verspätung der Zug wirklich auftaucht und um 17.10 Uhr abfährt. Bayreuth wird gar nicht mehr berührt. Die bekannte Hauptstadt von Oberfranken ist heute anscheinend nur unwichtiges Randgebiet, wie früher zur Zeit der untergegangenen DDR. 19.05 Uhr ist der Zug endlich am Ziel. Draußen wartet der Gastgeber auf dem Bahnsteig.
12.11.14. Mittwoch. Wir fahren zum Waldsteingebirge. Im mystischen Nebel ragt der steinerne Bärenfang, früher mit Falltüren für Wildtiere, die hier Nahrung suchten. Der Waldstein, die Stille der unberührten Natur ist ein starker Kontrast zu allen menschlichen Behausungen und der Reizüberflutung in der Großstadt.
Ringsum türmen sich gewaltige graue Granitfelsen. Die zeitlose Urnatur im leichten, kühlen Novemberwind. Die Aussichtsplattform „Schüssel“ mit dem Fernblick in alle Himmelsrichtungen.
Beim Aufstieg zu den Resten der Ruine des Roten Schlosses schimmert auf den Felsen hellgrünes Moos. 15.00 Uhr verweile ich im Gastraum des beliebten Waldsteinhauses. 17.40 Uhr bringt uns ein Taxi zurück durch die frühe, stockdunkle Nacht. Der Fahrer plaudert kritisch über das ländliche Alltagsleben hier, „Die jungen Leute ziehen weg. Die Rentner bleiben und diejenigen, die alles kaputt machen.“
18.10 Uhr betreten wir eine holzgetäfelte Pizzeria. Köstlich gewürzte einfache Speisen. Alle Tische sind gut besetzt, an einem ganz normalen Arbeitstag in der Kleinstadt, mitten in der Woche. 22.05 Uhr gehen wir.
13.11.14. Donnerstag. 9.54 Uhr Abfahrt nach Bayreuth, mit einer pauschalen Bayern-Tageskarte für 27 Euro. 10.30 Uhr sind wir da. Im November vor zwei Jahren war ich zum letzten Mal hier..
Das winterstille Festspielhaus am Horizont verschwimmt still in den Grautönen des umliegenden kahlen Waldes. Drinnen machen sich in der Sommersaison organisatorische Mängel und misslungene Inszenierungen breit, an denen Einige gut verdienen. Vor dem Alten Schloss im Stadtzentrum präge die schrägen Dächer kleiner brauner Holzbuden einen beschaulichen „Wintermarkt“.
Vor dem Haus Wahnfried ist eine große Baustelle mit ratternden Baggern. Hier will man immerhin den Zustand der Eingangsallee herstellen, so wie es ihn gab zu Richard Wagners Zeit. Die moderne Bushaltestelle und Autoparkplätze sind verschwunden. Ein kleiner Flachbau des Museums informiert die Besucher.
Doch im alten Garten ist die Fassade eines gläsernen Neubaus, in dem ein Museum entstehen soll. Bis zum Hofgarten, neben dem weltberühmten historischen Privatgrundstück des Komponisten. Ein Bauarbeiter gibt meiner Kritik Recht, „Da sind Sie nicht der Einzige“.“ Wagners von dunklem Efeu umranktes Grab, immerhin, ist unversehrt. Dazu erschien heute ein Artikel im Nordbayerischen Kurier über die Rechtmäßigkeit des Neubau-Beschlüsse, wegen der unbekannten Folgekosten. Die Ausübung von geistiger Kraft muss sich im Rahmen der Ethik beschränken, deren Grenzen das Allgemeinwohl schützen sollen.
Nebenan ist das Logengebäude mit dem „Deutschen Museum“ der Freimaurer. Ein sandsteinfarbenes klassizistisches Gebäude, nur hundert Meter östlich, auf dem gleichen geographischen Breitengrad wie Haus Wahnfried. Im Osten beginnt auch jeder neue Tag. Ein zentraler Bestandteil, auf dem Weg des Menschen zur Erkenntnis und Erleuchtung.
Das kleine Museum ist sorgfältig gestaltet und beschriftet. Maurerkellen und Winkelmaße in anschaulichen Glasvitrinen, auch historische Zeichnungen. Geheimnisvoll sind die Rätselbilder der Symbolik, hinter denen eine eigene, vergeblich ersehnte letzte Wirklichkeit aufscheint und leuchtet.
17.31 Uhr. Nach den heutigen Enttäuschungen kommt unterwegs im Zug die Traurigkeit. Der Bruch mit Bayreuth scheint von Dauer zu sein, aber Kenntnisnahme und Wahrnehmung erweitern das Bild.
Ein Zitat aus Schuberts „Winterreise“: „Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten; Es schlafen die Menschen in ihren Betten, Und morgen früh ist alles zerflossen. Je nun, sie haben ihr Teil genossen. Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde, Ich bin zu Ende mit allen Träumen. Was will ich unter den Schläfern säumen ?“
Im Wirtshaus sprechen wir nach dem Essen über einen „Zeit“-Kommentar zur neuen Übersetzung des antiken Denkers Lukrez (97 – 55 v.Chr. ), der schon vor zweitausend Jahren in einer sechsbändigen Dichtung „Über die Natur der Dinge“ und über Atome nachdachte, die schon damals verstanden wurden als die kleinsten Teilchen der Welt. Er beschrieb in der Nachfolge Epikurs die Kunst der Lebensfreude und die Verringerung der Angst vor dem Tod. Zu seinen Bewunderern gehörten selbständige, mutige Geister wie Cicero, Macchiavelli, Giordano Bruno, Galilei, Montaigne, Lichtenberg, Nietzsche und Marx.
4.11.14. Freitag. 9.54 Uhr fährt der Zug ab. Auf dem Bahnsteig Wehmut und Nachdenklichkeit beim Abschied. Draußen vor den Fenstern breitet sich die Landschaft aus, deren magisches Novembergrau sich im Sommer verwandelt in leuchtende Traumlandschaften. Unterwegs zeigt die Natur ein überwältigendes, gedämpftes Farbenspiel in Schwarz, verblassendem Gelb, rostrotem Laub, welkenden Blättern auf den Wegen, blauen Himmelstupfern über den auf- und abschwingenden Mittelgebirgen.
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