Rote Glasfilter

27.8.2021. Schaut man durch einen roten Glasfilter, besteht die Welt dahinter auch nur noch aus roten Farbtönen, zeigt sich also künstlich und verfälscht. Bei Kameras kann man das automatisch einstellen, auch da kommt es immer darauf an, wer den Apparat in der Hand hält. Ein großer Künstler hat da grenzenlose Möglichkeiten, er lässt auch absichtlich Einzelheiten der Originalvorlage weg.  Am genauesten ist das natürliche Licht, weil es sogar die Schatten verfeinert. Und noch viel mehr sieht man, wenn man über die unbeweglichen Bremsklötze   nachdenkt. Dann tauchen aus der Finsternis helle Lichtblitze auf, die eine so große Kraft entwickeln, dass sie das Universum durchsichtig machen. In der Realität ist das gar nicht möglich, aber das Prinzip funktioniert.

Beim Lesen der 154 Shakespeare-Sonette hat man den Eindruck, dass eine ganze Welt sich öffnet, weil die Sprachkraft, die Naturbilder und Ideen zwar begrenzt sind, aber in der Erinnerung lebendig bleiben. So kann das auch mit ganz kurzen Kommentaren geschehen. Im April 1971 besuchte uns ein Architekt, der teure Renovierungsarbeiten und Sanierungen durchführen sollte. Beim Verlassen des Hauses entdeckte er auch noch den großen Naturgarten mit Obstbäumen, Stachelbeersträuchern und Blumen. Da rutschte ihm unbeabsichtigt der Satz heraus: „Da ist ja auch noch Bauland!“ Für ihn sicherlich, aber für uns nicht. Gar nicht mehr überraschend waren danach  seine Betrügereien. Wegen übertriebener Honorarforderungen mussten wir mit ihm zum Streit, vor das 100 Kilometer entfernte  Oberlandesgericht Hamm. Die Richter glaubten ihm überhaupt nicht. Er hatte also nur überflüssige Kosten und Ärger verursacht, bekam aber dann auch noch schlimmeren  Ärger mit anderen Kunden. Das wiederum sprach sich in der Kleinstadt schnell herum. Und auch in seiner gesamen Geschäfts-Branche.

Dieses Beispiel existiert in unzähligen ähnlichen Variationen. Aber man erlebt dabei immer nur die gleiche Melodie: Raffinierte Täuschungsmanöver und der ständige Blick durch die roten Filter der Habgier, des rücksichtslosen  Zusammenraffens von fremdem Geld oder der Schädigung von Unschuldigen. In der Stadtmitte von Münster gab es einmal eine beliebte Diskothek, an deren jahrelange Besuche ich unvergessliche Erinnerungen habe. Um Mitternacht, Ende April 1976, wurde dort die neue „Maikönigin“ gewählt. Jede Besucherin konnte sich sofort dafür bewerben. Dann stimmten die anderen Gäste mit Handzeichen und künstlichem Jubel-Beifall  ab, und der folgende erste Mai war als Ausflugstag gerettet. Noch mehr Beispiele wären langweilig, es geht wieder nur um das Prinzip. Schon seit zwanzig Jahren ist diese Diskothek, die wie eine gemütliche alte Bauerntenne aussah,  restlos verschwunden, dort steht jetzt ein vierstöckiges Geschäftshaus. Als Treffpunkt ist es ungeeignet, und es gibt auch genug Ausweichmöglichkeiten in der Nähe. Aber ein kräfiges Bild ist für immer verschwunden, das man hätte aufbewahren können, mit einer ständige Anziehungskraft für zahlende Gäste aus der gesamten Region, die sicherlich auch tagsüber noch viel Geld in der Stadt ausgegeben hätten und gern wiedergekommen wären.

Die roten Glasfilter blenden das aber aus, weil sie auch beim aufgeheizten Rot von  hungrigen Raubtier-Augen sich nur schmalspurig auf eine einzige Farbe konzentrieren. Das erzeugt nur Langeweile, und auch da passen sich viele Mitmenschen einfach an. Wenn sie dann keine Grenzen mehr kennen, werden sie unangenehm. Rot ist sowieso eine auffällige, schreiende  Signalfarbe, mit deren abschreckender Wirkung man sparsam umgehen muss, auch bei der Kleidung oder bei sonstigem Schmuck.

Nicht weit vom Marienplatz entstand vor einem Jahrzehnt, an der Sendlinger Straße, ein vornehmes Ladenzentrum mit Luxuswaren. Damals habe ich mich mit einem der Architekten unterhalten, der zu Recht auf seine Leistung stolz war.  Dann bedauerte ich, dass dabei  ein paar alte Münchner Traditionsgeschäfte verschwunden waren, auch die langjährigen Stadtredaktionen von „Süddeutscher Zeitung“ und „Abendzeitung“. Der freundliche Gesprächston hat sich dabei nicht verändert, aber er war enttäuscht und ging dann bald. Schade ist es gar nicht, wenn Neubauten in einer guten Ortslage entstehen. Aber sie machen das frühere Stadtbild ungemütlicher, denn auch die Lokale sind teurer geworden. Eine Weltstadt muss optische Abwechslung bieten, überall.

Prinzipienreiterei, nur um Recht zu haben, ist dumm. Und wer selbst Fehler macht, muss deshalb nicht bei anderen herumsuchen. Doch eine eigene Meinung ist etwas ganz Anderes. Es ist leicht nachweisbar, dass meine Bewertungen und Prognosen oft stimmen. Genauso wird offen erklärt, welche finanzielle Schäden in Millionenhöhe sich vermeiden lassen. Für ganz genaue Rechnungen ist hier gar kein Platz, das ist  nur die Sache der Betroffenen. Aber wenn sie wirklich nachrechnen und zu vergleichbaren Ergebnissen kommen, dann sind es keine Einzelfälle mehr, sondern es besteht Handlungsbedarf.

Das auffällige Knallrot passt  als Alarmfarbe gut zu den hochkochenden Leidenschaften in Verdis „Trovatore“. Lorenzo Mariani hat sich an der römischen Oper in diesem Jahr dazu  etwas ganz Anderes einfallen lassen: Einen dramatischen Wolkenhimmel über der Ausstattung, der wie ein bevorstehender Sturm  auf den Zuschauer zurast. Mit wechselnden Farben, und auch das passt  genau. So wie  der Dirigent Daniele Gatti:

https://www.youtube.com/watch?v=BYNd6HEWR4U

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