Gurre-Lieder, 2. Teil

24.5.2021. Die gestern anylyierten Gurre-Lieder stecken voller Geheimnisse, die in Kurzform deutlich erklärt wurden. Da wirkt es noch rätselhafter, wenn mittendrin ein „Sprecher“ das Wort ergreift, der in die vorherige Traurigkeit überhaupt nicht hinenzupassen scheint, sondern nur albernen Unsinn von sich gibt. Ein paar Auszüge reichen, um ihn vorzustellen:

„Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut, nun duckt euch nur geschwind,  denn des Sommerwindes wilde Jagd beginnt.
Viel schlimmer kommt es, als ihr euch nur je gedacht:
Hu! wie’s schaurig in den Buchblättern lacht!
Das ist Sankt Johanniswurm mit der Feuerzunge rot, Still! Was mag der Wind nur wollen?
Hinauf, über die Bäume, schwingt er sich nun in lichtere Räume,
denn dort oben, wie Traum so fein, meint er, müßten die Blüten sein!
Dort, in der Wellen unendlichem Tanz.“

Diese Sätze erinnern an den Dadaismus, der ab 1916 versuchte, alle Sprachtraditionen abzuschaffen und sie durch aufgeladene Einzelwörter zu ersetzen. Ein Sinn oder Zusammenhang ergibt sich nicht unbedingt daraus, es sind Sprach-Spielereien. Doch bei den Gurre-Liedern findet man mehr, wenn man auch die gleiche Methode anwendet: „Des Sommerwindes wilde Jagd beginnt. Viel schlimmer kommt es, als ihr euch nur je gedacht Was mag der Wind nur wollen?
Aber hinauf, über die Bäume, schwingt er sich nun in lichtere Räume.“

Wenn man das ganze bunte Blumengeranke drumherum weglässt, bleiben ein paar Hinweise: „Des Sommerwindes wilde Jagd“ ist ein Gespenster-Heer, „Waldemars Krieger“. Nach dem Tod von Tove tauchen sie auf und singen Gruseliges: „Nun jagen wir über das Inselland! Vom stranglosen Bogen Pfeile zu senden, mit hohlen Augen und Knochenhänden.“ Das sind Walküren, wie sie aus den skandinavischen Sagen bekannt sind. Sie bringen tote Krieger nach Hause, zur Götterburg Walhall. „So jagen wir jede Nacht, bis zum Jüngsten Tag. Die Zeit ist um! Und die Erde saugt das lichtscheue Rätsel ein. Versinket! Versinket! Das Leben kommt mit Macht und Glanz, mit Taten und pochenden Herzen,“ Das zweistündige, dunkle Werk endet also lichterfüllt, mit einem großen mystischen Chor: „Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum.   Östlich grüßt ihr Morgentraum.  Lächelnd kommt sie aufgestiegen, aus den Fluten der Nacht, lässt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht.“

Dieses alte Licht-Motiv stammt auch aus der Welt von Richard Wagner, und Schönbergs Musik erinnert sehr stark an den „Tristan“, der alle musikalischen Traditionen durchbrach, mit ekstatischen Klängen, die immer noch einmalig und unverwechselbar sind. Wieder erwähnt wird diesmal  auch das „lichtscheue Rätsel“ aus dem ersten Teil. Das ist der Untergang, der Tod, das Ende aller Träume und Pläne. „Sankt Johanniswurm mit der Feuerzunge“ ist eine kurze Anspielung auf den Johannistag am 24. Juni, und auf die kurz danach stattfindenden Sommersonnenwende, den Sommer-Anfang  Danach hört der „Sprecher“ auf, mit den Worten: „Aber hinauf, über die Bäume, schwingt er sich nun in lichtere Räume. Und dort, in der Wellen unendlichem Tanz.“  Das gesamte Werk endet genauso lichterfüllt, mit einem großen mystischen Chor: „Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum. Östlich grüßt ihr Morgentraum. Lächelnd kommt sie aufgestiegen aus den Fluten der Nacht, lässt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht.“

Der „östliche Morgentraum“ ist ein Archetypus, ein Urbild aus der Frühzeit. Im Osten nähert sich täglich die Morgendämmerung, um einen neuen Arbeitstag anzukündigen und die Fortsetzung aller bisherigen Pläne.

Die Gurre-Lieder sind ein schwerer Gedankenbrocken, voller Rätsel. Aber wenn man sie entschlüsseln kann, sind sie eigentlich leicht zu verstehen. Als  „Sprecher“, der hier auch gar nicht singt, waren schon viele berühmte Künstler im Einsatz. Rolf Boysen in der Münchner Staatsoper. Und der unvergessene Wagner-Wotan Hans Hotter, der zwei Mal auf einer CD dabei war. Der Dirigent Mariss Jansons  trat mit einer Riesen-Besetzung auf,  im September 2009 (118 Minuten):

https://www.youtube.com/watch?v=8J6VjXglCsY

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