23.6.2021. Die „Gurre-Lieder“ von Arnold Schönberg (1874 – 1951) wurden am 23.2.1913 in Wien uraufgeführt. Sie erzählen vom Schlos Gurre, einer Burgruine in Dänemark. Das fast zweistündige Werk hat einen außergewöhnlichen ersten Teil, das andere ist Geschmackssache. Der erste Teil handelt von der grenzenlose Liebe König Waldemars zu Tove (Taube), die plötzlich stirbt. Vorher hört man zehn Lieder mit großer Orchesterbegleitung, bei denen Schönberg alle Grenzen des Ausdrucks musikalisch überschreitet. Dabei hört man im Klang deutlich sein großes Vorbild, den am 10.6.1865 in München urufgefphrten „Tristan“ von Richard Wagner.
Schömberg versucht sein Vorbild sogar noch zu übertreffen. Die Ekstase wird in musikalische Grenzbereiche geführt, am eindringlichsten ist die Partie von König Waldemar. Es ist leicht verständlich, warum die Texte des dänischen Dichters Jacobsen (1847 – 1885) eine derartige Wirkung auf einen Komponisten hatten.
Sinnvoll dabei ist die Beschränkung auf eine Auswahl, die am Ende dieses Artikels zu finden ist.
____________________________________________
Jacobsens Text ist ein gutes Beispiel für die Deutung von Worten, die ihre Wirkung aus der gut überlegten Zusammenstellung bekommen und erst im Zusammenhang noch einen größeren Sinn.
Am Ende der zitierten Passagen steht: „Und die Erde saugt das lichtscheue Rätsel ein.“ Lichtscheu ist hier gar nichts, aber als Verkleidung passt es. Das dänische Schloss Gurre wird nicht näher beschrieben, es bündelt nur die inneren Abläufe. Der Autor Jacobsen streift dabei mehrere Bereiche. Eine grenzenlose Liebe, die in der Realität oft nur Probleme und geplatzte Illusionen bringt. Aber die Gedanken schweifen durch das Universum und stellen weitere Verbindungen her. Das ist eigentlich alltäglich, aber wichtig ist nur der Unterschied zwischen Schrott und Schätzen. Mit einem breiten Wissen kann man sehr reich werden, doch dazu gehören noch mehr Merkmale. Die Suche danach füllt viele Lebensläufe, aber auch wer zu unfairen Tricks greift, erreicht oft nicht das gewünschte Ziel.
Andere Bereiche der Gurre-Welt: Die Abenddämmerung über dem Meer, mit der Anmerkung: „Ruh‘ aus, mein Sinn, ruh‘ aus! Und jede Macht ist versunken in der eigenen Träume Schoß, Und es treibt mich zu mir selbst zurück,“
Diese Anregung ist das Fundament jeder Autobiographie. Der römische Kaiser Marc Aurel nannte das „Selbstbetrachtungen.“ Keine Selbstdarstellung als Wichtigtuerei, sondern ein tiefer Blick auf die Quellen, die Antriebskräfte jeder Existenz.
Das ist zwar ein Rückzug von der materiellen Welt und ihren Äußerlichkeiten, aber in eine Schatzkammer von Erfahrungen, Erkenntnissen und Bildern, die geheimnisvoll sind, aber nicht unerklärlich. Die Methoden zur Erklärung werden hier nur als Kurzbeispiele genannt.
Nach dem Blick auf sein Innenleben schlägt der Gurre-Dichter einen großen Bogen zur Vergänglichkeit:
„Es ist Mitternachtszeit, und unselige Geschlechter stehn auf, aus vergessenen, eingesunkenen Gräbern,
und sie blicken mit Sehnsucht nach den Kerzen der Burg
und der Hütte Licht.
Und sie verschwinden und seufzen: „Unsere Zeit ist um.“
Hier taucht eine dämonische, dunkle Farbe auf, die aber genau zu den anderen Gedanken passt. Schönberg findet hier seine besten Melodien, als ob sich die Worte in Klänge verwandeln. Dach dann kommt die Übertreibung. Waldemars Liebe überschreitet jedes Maß und wird zur Blasphemie, zum sündigen Vergleich mit Gott:
„So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht,
wie die Welt nun tanzt vor mir.
Aber stolzer auch saß neben Gott nicht Christ
nach dem harten Erlösungsstreite,
so wie Waldemar jetzt stolz und königlich ist an Toveliles Seite,
als ich deinen Kuß, als ich Gurres Zinnen sah leuchten vom Öresund.
Und ich tausche auch nicht ihren Mauerwall
und den Schatz, den treu sie bewahren,
für Himmelreichs Glanz und alle heiligen Scharen!“
Der Verfasser, Jens Peter Jacobsen, hatte kein glückliches Leben und kämpfte mit inneren Problemen. Er starb schon mit 38 Jahren. Der Komponist Arnold Schönberg wandte sich ab 1909 von der traditionellen Musik völlig ab.
Ein erfolgreicher Publikumsliebling wurde er damit nicht. Er entwickelte die Zwölftontechnik, die logischen Kategorien folgte, aber schöne Melodien nicht als Ziel ansah. Der Verstand ist aber kein Alleinherrscher der Welt. Das zeigen viele falsche Beurteilungen und gescheiterte Projekte. Die Gefühle haben eine eigene Macht, ein eigenes Wertesystem und arbeiten eng mit der Phantasie zusammen, die neue Ideen auslöst. Gemeinsam schaffen sie Meisterwerke, die Tausende von Jahren Bestand haben.
Eine überzeugende Aufnahme der Gurre-Lieder gelang im September 2016, an seinem 80sten Geburtstag, dem kroatischen Dirigenten Niksa Bareza in Zagreb. So wie er die Musik zum Klingen bringt, hat er den Text mit Sicherheit genau verstanden:
https://www.youtube.com/watch?v=m6fIJFRzXwo
___________________________________________________
Die Beschränkung auf eine Auswahl des Textes hebt seine Stärken noch mehr hervor:
„Nun dämpft die Dämmerung jeden Ton von Meer und Land,
Und des Meeres klare Wogen wiegten sich selber zur Ruh.
Im Westen wirft die Sonne von sich die Purpurtracht
Nun regt sich nicht das kleinste Laub
in des Waldes prangendem Haus. Ruh‘ aus, mein Sinn, ruh‘ aus!
Und jede Macht ist versunken in der eigenen Träume Schoß,
Und es treibt mich zu mir selbst zurück,
Still, friedlich, sorgenlos.“
Schönberg setzt vor diese Einleitung ein langes, hoch romantisches Orchstervorspiel, das Naturtöne wie Vogelrufe enthält, aber auch schon schwelgende Gefühle ausbreitet.
„Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet, presst an die Küste sein pochendes Herz. Horch, in der Stadt nun Hundegebell!
Und die steigenden Wogen der Treppe
tragen zum Hafen den fürstlichen Held.“
„So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht,
wie die Welt nun tanzt vor mir.
So lieblich klingt ihrer Harfen Ton nicht, wie Waldemars Seele dir.
Aber stolzer auch saß neben Gott nicht Christ
nach dem harten Erlösungsstreite,
als Waldemar stolz nun und königlich ist an Toveliles Seite.
Nicht sehnlicher möchten die Seelen gewinnen
den Weg zu der Seligen Bund, als ich deinen Kuß, da ich Gurres Zinnen sah leuchten vom Öresund.
Und ich tausch‘ auch nicht ihren Mauerwall
und den Schatz, den treu sie bewahren,
für Himmelreichs Glanz und betäubenden Schall
und alle heiligen Scharen!“
„Es ist Mitternachtszeit,
und unsel’ge Geschlechter stehn auf, aus vergessenen, eingesunkenen Gräbern,
und sie blicken mit Sehnsucht nach den Kerzen der Burg
und der Hütte Licht.
Und der Wind schüttelt spottend nieder auf sie: Harfenschlag
und Becherklang und Liebeslieder.
Und sie schwinden und seufzen: „Unsre Zeit ist um.“
Mein Haupt wiegt sich auf lebenden Wogen,
meine Hand vernimmt eines Herzens Schlag,
lebenschwellend strömt auf mich nieder
glühender Küsse Purpurregen,
und meine Lippe jubelt: „Jetzt ist’s meine Zeit!“
„Der Hahn erhebt den Kopf, um zu krähen,
hat den Tag schon im Schnabel,
und von unsern Schwertern trieft rostgerötet der Morgentau.
Die Zeit ist um! Und die Erde saugt
das lichtscheue Rätsel ein. Versinket! Versinket!
Das Leben kommt mit Macht und Glanz.“
.