Ich kenne diese Leute nicht

29.10.2019. Die meisten Leute kennt man nicht. Niemand kommt auf die Idee, morgens in der überfüllten U-Bahn jedem einzelnen Fahrgast die Hand zu schütteln.

Umgekehrt passiert das oft. Jeder sogenannte Prominente weiß, dass sofort die Autogrammjäger ihn umringen, wenn er sich blicken lässt. In den ersten Münchner Jahren war ich zuständig für die Fahrpläne unserer Betriebsautos in ganz München und habe dafür das erste Computerprogramm im ganzen Land entwickelt. Die Fahrer hat es gefreut. Von den Vorgesetzten gab es ein freundliches Schreiben. Normalerweise wurden für wichtige Neuentwicklungen auch damals gute Anerkennungsprämien gezahlt. Darüber fiel aber kein Wort. Vielleicht haben diese Prämien gar nicht existiert oder es hat sie Jemand unterwegs aus Versehen mitgenommen und nicht zum Fundbüro gebracht. „Ich kenne diese Leute nicht.“ Aber die Mitarbeiter kannten mich. Da in München sehr viele Fahrer unterwegs sind, bin ich auch von vielen Unbekannten gegrüßt worden, die sich manchmals sogar bedankt haben.

Der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti wurde in den Medien oft sehr heftig angegriffen und beschuldigt. In dem Kinofilm „Il Divo“ (Der Göttliche ) wird das Alles sehr deutlich und drastisch gezeigt, mit Schauspielern, in dokumentarischer Klarheit. Mehrfach musste er auch zu Gerichtsprozessen, wo ihn bereits die Zuhörer laut beschimpften. Aber Folgen hatte das nicht. Meistens sagte er nur, „Ich kenne diese Leute nicht.“ Aus dem Film „Il Divo“ kann man hier einen Ausschnitt sehen, wie der Politiker einsam durch nächtliche Straßen wandert und kein Wort spricht:

https://www.youtube.com/watch?v=jMnlzxl1OX8

Auch bei Sportveranstaltungen, in Kaufhäusern und bei Demonstrationen sieht man immer viele Leute, die man nicht kennt.

Gestern habe ich das auch erlebt. In einem ganz einfachen Lokal habe ich einen Tee getrunken. Da ging die Tür auf und mehrere Statisten marschierten vorbei, die vorher nur verkleidet, aber immer wieder ein paar dumme Provokationen trainiert hatten und damit die Passanten belästigten. Das Erstaunliche war, dass sie diesmal weder Perücken noch Schminke trugen, aber den Auftrag hatten, an mir vorbeizugehen und mir ins Gesicht zuschauen. Das ist ihnen sehr schwer gefallen. Einige hatten Angst, obwohl ich Niemanden etwas tue. Andere wirkten verzweifelt oder depressiv. Vielleicht war das ja nur eine Inszenierung. Gemeint war es auf jeden Fall als anerkennenswertes Zeichen des Respekts und der Einsicht. Das kam aber nicht von ihnen. Denn sie kennen alle ihre Statistenleiter und deren Namen. Wenn man sie befragt, treten auch diese Figuren aus dem Schatten. Zwei davon bei dem Auftritt waren Journalisten, aber keine Perückenträger. Der Eine verzog ungerührt keine Miene und verschwand in einem Technikraum. Er hat mal was Schlimmes angestellt in einer anderen bayrischen Stadt und ist deshalb unvergesslich bei seinen Kollegen und Mitbürgern. Der andere war noch interessanter. Der war zunächst nirgendwo einzuordnen, setzte sich aber genau in Blickrichtung und warf gelegentlich, aber aufmerksam wortlose Blicke herüber. Deshalb habe ich mich in seine Nähe gesetzt. „Ich kenne diese Leute nicht.“ Er wiederholte weiterhin seine stumme Gebärdensprache und löste dabei Kreuzworträtsel in einer lokalen Tageszeitung. Dabei benutzte er einen Kugelschreiber in der kräftigen Signalfarbe dieses Blatts, wie ihn Mitarbeiter oft im Büro oder unterwegs benutzen. Jetzt war er sofort einzuordnen. Die Zeitung ist in der Stadt bekannt und manchmal habe ich mich über Berichte geärgert, die man gar nicht ernst nehmen konnte, die aber die Umsätze erhöhten und die Gehälter sicherte. Nebenbei wirkte er sehr traurig und unruhig. Auch er hatte den Auftrag, ständig traurig herüberzuschauen, als ob er gleich in Tränen ausbrechen müsste oder schon Lebenslänglich bekommen hat.

Solche Leute, auch wenn sie gut verdienen, sind allerdings Befehlsempfänger und machen das nicht von selbst, kennen aber ausnahmslos ihre Auftraggeber. Mir kam das Ganze wie eine Vorführung von dressierten Raubtieren vor. Freude hat das genauso wenig bereitet wie derartige Auftritte im Zirkus. Aber der Regisseur hat es gut gemeint. Das Drehbuch war gut geeignet für Märchenvorstellungen in Grundschulen. Und darum kann man sich auch freuen über die Phantasie, mit der zeitgenössische Regisseure überreichlich ausgestattet sind und dass sie manchmal auch nett sein wollen. Die Statistentrainer haben übrigens die gleiche Berufsbezeichnung wie beim Fußball. Sie nennen sich „Coach“. Sie testen manchmal auch Kandidaten beim berühmten „Couch-Test“. Das ist Bettgymnastik, die nicht unbedingt auf einem Wohnzimmermöbel stattfindet, sondern auf großen Matratzen. Wenn ein Coach den Couch-Test verlangt, entscheidet er auch, ob die Kandidaten später in abendfüllenden Fernsehfilmen seriöse Hauptrollen spielen dürfen. Wenn das herauskommt, heißt es im Strafgesetzbuchallerdings ganz deutlich „Missbrauch von Abhängigen.“ Und dann ist der Spaß vorbei.

Die Zahl der verkleideten Statisten und Maskenbildner hat mittlerweile Ausmaße erreicht, die sich überall herumsprechen. Natürlich auch die Namen der Anführer, der Drehbuchautoren und Regisseure, die in der gesamten Hierarchie-Pyramide bis ganz weit nach oben schauen können. Für jede Firma wäre das eine existenzbedrohende Katastrophe. Wenn die Presse das Thema gar nicht aufgreift, ist klar, dass vielleicht alle möglichen Geschichten mit Doppelgängern und schreienden Stadtbewohnern für fette Schlagzeilen sorgen können, solange man sie nicht überprüft. Das ist Aufgabe der Chefredakteure. Die können natürlich auch sagen, „Ich kenne diese Leute nicht.“ Aber ein kerniges bayrisches Gericht fällt dann sofort ein Urteil wegen Meineid. Der „Meineidbauer“ ist ein altes Volksstück mit Musik von Ludwig Anzengruber. Das ist wirklich lustig. Die schuldbewussten, angsterfüllten Gesichter der vorbeimarschierenden, sonst verkleideten Statisten gestern waren ein Trauerspiel, mit anerkennenswerter und erfreulicher Absicht. Aber das gilt nicht nur für die Mitwirkenden, sondern auch für deren viele, vor Lachen schenkelklopfende Freunde, Kollegen und Stammtischbesucher, denen das Lachen sonst auch noch vergeht.

Eine gute Idee ist es, eine mittlerweile derart weit und breit verrufene Theater-Bruchbude einfach abzureißen, die Drehbücher wegzuschmeißen und den ahnungslosen Kleindarstellern einmal die Webseite des Arbeitsamtes zu empfehlen.

Damit wäre für mich das Thema erledigt. Es war nichts als Zeitverschwendung. Und Grund genug, endlich über sinnvollere Aufgaben nachzudenken. Was das ist, kann man in vielen anderen Artikeln dieser Webseite ausführlich erfahren. Wenn man will.

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