Im welkenden Herbst

16.9.2020. Der Herbst beginnt im Kalender dieses Jahr schon bald, am 22.9. (Dienstag), der Winter am 21.12. Das Tageslicht verkürzt sich schon seit Wochen.

Die Depressionen haben Hochkonjunktur, auch die Varianten. Schlechte Laune gibt es das ganze Jahr, wenn die Voraussetzungen stimmen: Ein kurzer Streit reicht aus, für fünf bis fünfzig Minuten. Wer abgebrüht it, merkt gar nichts. Oder kauft sich eine Kleinigkeit. Wenn das zur Gewohnheit wird, wird es teuer. Jähzorn ist angeboren, dafür gibt es täglich Blitzableiter, schwache Kollegen oder Partner. Schaukelt sich das hoch, sind getrennte Wohnbereiche nützlich, mit einer beweglichen Schiebetür ohne Schloss. In jeder Firma hocken Menschen und Kunden eng zusammen, ohne sich das vorher aussuchen zu können. Es entsteht ein Druck, den man durch Besuche, auswärtige Termine und Pausen dämpfen kann. Gleichzeitig schaukelt sich das Geschwätze der Sitzenbleiber. Das Grinsen wird noch breiter, die Beleidigungen auch, vor Allem, wenn die Betroffenen nicht da sind. Rufmord und Vernichtungskampagnen werden ausgebrütet, gehen aber manchmal ins Leere, wenn es Keinen interessiert und die Verursacher immer wieder auffallen trotz aller Verkrümmungen und Schleichbewegungen. In teuren Musiktheatern gab es bis vor einem halben Jahr verklebte Pausencliquen auf den preiswerten Stehplätzen, die sich gar nicht für Musik interessierten, auch keine Ahnung hatten, aber vor Gift und Galle fast platzten. Das Gerede sprach sich schnell herum, aber es war langweilig. Die erhofften Millionäre saßen draußen, bei der benachbarten Konkurrenz, an blütenweiß gedeckten Tischen mit silbernen Kerzenleuchtern.

Sigmund Freuds teuerste Kundschaft wurde geprägt durch reiche Wiener Pechvögel, die aus Langeweile und Überfressenheit immer ungenießbarer wurden. die ihn auch nicht reich, aber berühmt machten. Das rettete ihn 1938, als die einmarschierte Gestapo mehrfach seine Tochter Anna zum Verhör abholte. Ein Jahr Lebenszeit blieb ihm noch, aber er wollte einfach weg, als 83jähriger schlohweißer Greis. Die „Fluchtsteuer“ für Reichsflüchtlinge konnte er nicht zahlen. Aber seine besorgte Bewunderin Marie Bonaparte hatte gute Kontakte zur Besatzungsmacht. Sie sprang ein, und dann durfte er weg. Zuletzt sollte er noch einen Lügen-Zettel unterschreiben, dass er gut behandelt worden wäre. Er zögerte nicht und ergänzte das Blatt noch mit dem handschriftlichen, eigenen Zusatz: „Ich kann die Gestapo nur Jedermann weiter empfehlen.“ Am Ziel, in London, hatten seine Gastgeber ein Haus mit einem kleinen Garten für ihn vorbereitet. Als er die blühenden Pflanzen anschaute, sagte er, „Am liebsten würde ich jetzt ‚Heil Hitler‘ rufen.“

Seine berühmte Behandlungscouch steht immer noch in London. Seine restliche Wohnung in der Wiener Berggasse 19 ist jetzt ein sparsames Museum, ein schmaler Hausflur, kleine Zimmer in einem alten Bau. Aber wenn man durchgeht, spürt man den Weltgeist, der dort sein ganzes Leben verbrachte. Er schrieb klar verständlich, aber ohne Konzentration und Ausdauer begreift man gar nichts. Ich brauchte als 21jähriger drei Jahre, aber dann wurde sein Denken ein unersetzlicher Teil der Persönlichkeit. Kein Universalreiniger, aber eine steile Treppe bis zur Spitze des Baums der Erkenntnis. Dante Aleghieri (1265 -1321 ) nannte während der Renaissance-Zeit im reichen Florenz der Fürsten Medici sein Buch „Göttliche Komödie“ eine Abenteuer-Reise aus der Hölle der Unwissenheit (Inferno), durch das anstrengende Fegefeuer der Prüfungen und Erfahrungen (Purgatorio), aufwärts zum Ziel, dem Paradies (Paradiso).

Der Baum der Erkenntnis hat mächtige Zweige, die unten ganz breit sind, aber in zehn Stufen (Sephiroth) nach oben immer schmaler werden. Sie bedeuten das Ausströmen von starken Ideen aus der einen Urquelle, die Alles erschaffen hat. Das Ganze hat die Form einer Pyramide. Auf der Spitze ist eine Krone.

Ein welkender Baum wirft seine Blätter ab, um sie vor dem eisigen Winterfrost zu schützen. Die Natur ist zuverlässiger als eine Wettervorhersage. Sie empfängt Signale, die für den Menschen nicht erkennbar sind. Lange vor einem Erdbeben flüchten Kleintiere, noch bevor die seismographischen Sensoren der Messgeräte Alarm schlagen.

Herbstliche Depressionen sind keine Alarmglocken, sondern ganz natürlich. Hysterische Personen geraten trotzdem in Panik. Wirkliche Ursache sind meistens ungelöste psychische Probleme, die sich an Gegenstände klammern oder an Menschen, die unerreichbar sind und ein elementares Recht darauf haben. Künstler fuhren im Winter oft nach Italien. Der tief melancholische Russe Tschaikowski komponierte ein kraftvolles „Capriccio Italien“, in dem nur die leuchtende Sonne scheint:

https://www.youtube.com/watch?v=eaU–vM_Ioo

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