12.7.2019. Eine Woche ist der Kurzbesuch im Frankenland jetzt auch schon vorbei. Aufgefrischt wurden alte Ausflugsbilder. Aber da war noch etwas. Die Musik war wieder da. Ich höre sie nur nur noch selten, denn sie ist gemeinsam mit ihrer optischen Gestaltung längst gespeichert. Weder ein Musiktheater noch technische Aufzeichnungen sind notwendig, um jederzeit, an jedem Ort diese Klänge zu hören, beginnend an einer beliebigen Stelle der Werke.
Und als die tatsächlich vorhandenen Orte längst wieder weit weg waren, entfaltete sich die Magie. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, versiegelte Wagner einen handgeschriebenen Zettel im Grundstein seines Musiktheaters: „Hier schließ ich ein Geheimnis ein. Da schläft es hundert Jahre. So lange es der Welt sich zeigt, wird es der Welt nicht offenbar.“
Die Grundsteinlegung war am 22.5.1872. Hundert Jahre später – 1972 – ist nichts Besonderes passiert. Gemeint waren nicht Kalenderjahre, sondern Märchenjahre. Als Dornröschen durch eine böse Fee in einen langen Schlaf versetzt wird, blühen aus der Dornenhecke ihres Schlosses nach hundert Jahren neue Rosen, und sie wird endlich von einem schönen Prinzen wachgeküsst.
In diesen Schlaf fielen die Wagnerfestspiele, als Wieland Wagner ( 1917 – 1966 ) starb. Er hatte als Regisseur das Genie seines Großvaters geerbt, allerings dessen genaue szenische Anweisungen völlig ignoriert. Im Jahr 1951, wohl zunächst auch aus Sparsamkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, schuf er eine Welt aus Farbe, Licht und Andeutungen, deren überlieferte Fotos heute noch überwältigen. Vor allem aktivierte er die Archetypen. Das sind nach der Definition des Schweizer Psychoanalytikers C.G. Jung die Urbilder aus frühesten Zeiten, die im Gedächtnis aller Menschen gespeichert sind. Erstaunlicherweise verstieß Wieland niemals gegen die Aussage der Werke, sondern schuf atemberaubende optische Eindrücke, die oft auch einen Bezug zu universalen, kosmischen Dimensionen hatten.
Wenn man nur das Innere eines berühmten Gebäudes betritt, zeigt sich nicht automatisch ein Geheimnis. Aber es ist lebendig im Inneren eines Gedenkorts oder eines Tempels, wenn man dort die Zeichen erkennt. Und die Zeit danach? Seit Wielands Tod sind 52 Jahre vergangen. Also nicht hundert Jahre wie in Dornröschens Schlaf. Aber damit ist ja auch keine Kalenderzeit gemeint, sondern ein wichtiger Zeitraum, in dem etwas wächst und sich entwickelt, bis es reif ist, offenbar und aktiv wird, also wirkt. Das war zum ersten Mal im Jahr 1951, als die neue Parsifal-Inszenierung mit einem Donnerschlag die ganze musikalische Welt aufweckte. Und heute? Ist noch kein neuer Prinz erkennbar, der den bisher 52jährigen Schlaf mit einem Kuss beendet.
Um so etwas zu verstehen, muss man Allegorien und die alten Bilderrätsel der Symbolik verstehen. Als 1876 die ersten Festspiele mit dem vierteiligen „Nibelungenring“ begannen, gab es technisch nur ein dämmeriges Gaslicht, handgemalte bunte Bühnenbilder, echte Bärenfelle und gehörnte Stierhelme. Cosima notierte anschließend in ihrem Tagebuch, dass es furchtbar war. „Es sah aus, als hätten wir wie Kinder Indianer gespielt.“
Und 1951 sah man plötzlich eine leere Bühne, deren Naturbilder ( Wald, der Fluss Rhein, die Götterburg Walhall ) nur durch abstrakte Zeichen angedeutet waren, die man aber sofort erkennen konnte und die in ihrer Beschränkung auf das Wesentliche eine starke Wirkung auslösten. Dazu kam eine aktive Lichtregie mit wechselnden Farben, die ständig die Atmosphäre begleiteten und vertieften. Wieland saß während der Proben oft nächtelang mit seinem Beleuchtungsmeister Paul Eberhardt im Zuschauerraum, nur um einzelne Farbtöne genau festzulegen. Als Solisten standen ihm die weltbesten und bekanntesten Sänger und Dirigenten jederzeit zur Verfügung. Er verlangte von Jedem höchste Konzentration. Als ein Chorsänger während der Proben nur kurz auf seine Armbanduhr schaute, herrschte Wieland ihn an, „Verlassen Sie sofort die Bühne!“
Es gibt viele Farbfolos seiner Geniestreiche. Der erste Akt von Lohengrin war ganz von einem dunklen Königsblau durchdrungen. Die Ritter trugen silberne Rüstungen. Das ging als „silberblauer Lohengrin“ in die Geschichte ein. Alles Sichtbare zielte auf das, was die zu Unrecht des Brudermords verleumdete Königin in „Elsas Traum“ ungeduldig erwartet: Einen Ritter, der ihr hilft: „Der soll mein Streiter sein !“
Diese Vision wird auch Wirklichkeit, und die ganze optische Gestaltung passte sich damals dieser magischen Welt an: Farbige gotische Kirchenfenster in ragender Größe reichen aus, um den Gang zur Kirche zu zeigen. Der verzauberte Schwan war ein abstraktes Zeichen ohne scharfe Kanten, aus matt leuchtendem Silber.
Eine derartige Bildersprache stammt aus der fernen Frühzeit des Menschen und war Vorläufer der esretn schriftlichen Wortaufzeichnungen. Wer sie versteht, kann damit die stärksten Wirkungen erzielen, die an keine historische Zeit gebunden sind. Dazu gehört auch der Surrealismus, dessen Meister Salvador Dali war. Mit fotorealistischen Gemälden öffnete er das Tor zu Welten, die in der Realität gar nicht existieren, aber in den Bildern der nächtlichen Träume, die Sigmund Freud erforschte und entschlüsselte.
Der biologische Körper ist Voraussetzung für das Leben. Doch nur der Geist durchdringt alles mit Feuer und mit der höchsten Stufe der Energie: Der Erkenntnis. Ihre weitergehende Steigerungsform ist die Erleuchtung, die Wahrnehmung dieser uralten Kraft in allen Lebensbereichen, bis zur letzten Stufe: Der Unio Mystica. Die Vereinigung des Menschen mit den Zeichen Gottes, die er erkennen kann. Um dieses Thema kreiste Richard Wagner immer wieder, und sein Enkel Wieland hat dazu eindrucksvolle Bilder gefunden.
Da verwandelten sich die vergänglichen Zeichen der Realität in Hinweise, deren Inhalt nur demjenigen zugänglich ist, der sie zu verstehen gelernt hat.
Der Physiker Albert Einstein sagte, „Wir stehen auf den Schultern von Riesen, die vor uns waren.“ Ohne die herausragenden Leistungen der Vergangenheit wären wir noch auf der Stufe der Steinzeit. Das Mittelalter vor tausend Jahren bündelte wie unter dem Hitzepunkt eines Brennglases alles Wissen der damaligen Zeit. Die Alchemie suchte nach dem Stein der Weisen, der Alles erklärt, und nach dem Elixier, aus dem man Gold herstellen kann. Zwar vergeblich, aber daraus entwickelten sich neue, ganz andere Forschungsergebnisse. Wagner bevorzugte die Beschäftigung mit dieser Epoche. Er war ein Medium. Ein Vermittler zwischen allen Dimensionen.
In den tiefen Ozeanen spiegelt sich die wechselnde Himmelsfarbe. Dahinter öffnet sich der Kosmos. Das Tor zum Universum.
Der üppige, vor zwei Jahren erschienene Bildband von Till Haberfeld mit dem Titel „Wieland Wagner“ gibt ein weites visuelles Panorama seiner Bildgestaltung wieder. Von „seinem“ Lohengrin Sandor Konya verlangte er, das er sich während der entscheidenden Gralserzählung überhaupt nicht bewegte, damit es keine Ablenkung von der gedanklichne Tiefe der Aussage gab, nur begleitet von den Worten und der Musik. Im Jahr 1958 sendete das ungarische Fernsehen eine Aufnahme, die sehr gut von Wieland hätte sein können. Man kann das hier sehen. Der Solist ist auch hier Sandor Konya :