18.1.2022. Die Lebensmitte eines Menschen kann man nicht voraussehen, aber die Zeit vorher und nachher. Weil Alles sich in eine Richtung bewegt, insgesamt aufwärts oder abwärts. Was in den ersten zwanzig Jahren angelegt und aufgebaut wird, setzt sich fort mit vierzig Jahren. Bei mir war das 1971 bis 1987, siebzehn Jahre in Münster. Da war Vieles in Bewegung, unklar, aber die Richtung war immer klar: Die Grenzen erkennen und so weit überwinden, wie es möglich war, ohne Schaden anzurichten oder sich in fremde Welten einzumischen, die nicht dazu passten. Wenn ein Autofahrer eisern darauf besteht, dass man immer auf ihn Rücksicht nimmt und auf seine Rechte, steht auf seinem Grabstein: „Er hatte Recht.“
Das ist viel zu wenig. Die Umgebung und der Rest des Wahrnehmbaren haben so viele Gesichter, dass man Distanz dazu halten muss, aber nicht grenzenlos. Die besten Jahre waren immer die, als das funktionierte. Sonst wehrt sich die Weltordnung, die in keinem schriftlichen Buch stehen muss, aber wirksam ist. Man kann sie nicht vollständig verstehen, weil das Wahrnehmungsvermögen begrenzt ist, aber sie reagiert. Und das lässt sich voraussehen, wenn man in das Innenleben der Organismen hineinschaut, nicht in ihre äußere Form.
Lebendig sind nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern Alles, was sich bewegt, nach Gesetzen, die zwar oberflächlich bekannt sind, aber nicht ihre Abgründe und Geheimnisse. Dafür braucht man keine anstrengende Geheimnistuerei, weil das nur Wichtigtuerei bedeutet. Alles wiederholt sich, aber auf völlig unterschiedliche Art. Menschen mit Perücke und Schminke erkennt man an der fettigen Gesichtscreme, die bei Sommertemperaturen schwitzt und an einer Haarfärbung, die nicht natürlich wirkt, sondern aufdringlich. Es gibt eine Aufzeichnung von Debussys (1862 – 1918) einziger Oper „Pelleas und Melisande.“ Sie spielt, laut Libretto, in einem grauen Nebel-Land „Allemonde“. Die Personen dieser anstrengenden Aufführung waren schwarz gekleidet, obwohl nichts gegen Farbe spricht, und Nebel kann auch sehr hell sein, wenn dahinter die Sonne aufgeht. Nur die Hauptfigur Melisande trug eine knallrote Perücke. Auch ihre Köperbewegungen waren selbstbewusst, sie störte das stille Reich, in dem der alte König Arkel mit seiner Ehefrau und den beiden Söhnen lebte. Das konnte nicht gut gehen. Golaud wird eifersüchtig und erschlägt seinen Halbbruder Pelleas.
Dann verdämmert die sichtbare Handlung in grauen, teilnahmslosen Bewegungen, als ob alle zu Eis gefrieren. Die Musik erzählt das Gegenteil. Impressionistisch flimmernde Klänge, wie Lichtblitze. Flutende Melancholie und konzentrierte Meditation, alles ist sehr anregend. Debussy mochte Richard Wagners lebhafte Klangräusche nicht, aber er bewunderte dessen letztes Werk „Parsifal“, weil es eine Atmosphäre der überwältigenden Transzendenz enthält, des Davonschreitens aus der realen Welt in eine andere, die sich nur noch auf das Nachdenken, die Konzentration richtet. Eine gemeinsame Sprache der beiden Komponisten, die nicht alltäglich ist. Sie ist auch das Geheimnis von „Shakespeares Universum“, direkt unter diesem Text. Er hatte auch die Außenwelt fest im Griff, sehr realistisch, aber unter der Oberfläche fand er das beste: Ihr Innenleben.
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