Mussorgskys Absturz

21.3.2022. Einen alten Film von 1959 ganz neu zu entdecken, kann auch ein technisches Erlebnis sein. Über Mussorgskys „Chowantschina“ gibt es hier schon mehrere Artikel. Die Verfilmung von Vera Stroyewa tauchte im Internet nur in einem Normal-Format, auf, aber es gibt eine noch bessere Breitwand-Version. Keine neue Digitalisierung, alle Bilder und Darsteller sind genauso wie in der anderen Fassung, aber in einer besseren Qualität. Die Solisten und der Chor des Moskauer Bolshoi-Theaters klingen noch besser, es gibt auch keine englischen Untertitel. Dafür ist die Bildgestaltung für das Breitwand-Format noch eindringlicher. Bei den vielen Massen-Szenen, aber auch bei den Auftritten der Solisten, in kostbaren Räumen der Zeit von Zar Peter dem Großen (1672 – 1725). Er hat für sein Reich viel geleistet, aber in der Handlung ist er gar nicht zu sehen. Nur über seine Macht wird immer wieder gesprochen. Ein Verräter schreibt einen anonymen Brief an den Zaren und beschuldigt die Fürsten Chowansky, sie wollten ihn stürzen und beseitigen. Darüber sprechen sie gar nicht, sind aber sehr machtbewusst. Und die hinterlistige Verleumdung wirkt. Sie werden sofort zum Tode verurteilt. Und viele andere, deren Schicksal nur angedeutet, aber gezeigt wird. Die Überlebenden versammeln sich zum Schluss an einem einsamen Waldsee und begehen gemeinsam Selbstmord, darunter die „Altgläubigen“. Ihre Chöre sind russich-orthodoxer Kirchenmusik nachempfunden, es ist wie ein Echo aus der Ewigkeit. Auch sonst zieht Mussorgsky alle Register der Hochdramatik. Vor Allem bei den „orgelnden Bässen“, tiefen Stimmen, die wie eine Orgel klingen. Auch Martha, die Führerin der Altgläubigen hat eine tiefe Stimme, sonst wirkt die Rolle nicht.

Mit einer modernen Instrumentierung gelingt Mussorgsky gleichzeitig die Vereinigung zwischen ganz alten Traditionen und schrillen Extremen. Das Vorspiel ist weltberühmt. Dazu sieht man die „Morgendämmerung an der Moskwa“, dem Fluss, der direkt am Roten Platz vorbeizieht, neben dem Kreml, dem Stadtpalast der Moskauer Zaren. Die Musik ist friedlich, überirdisch, dazu hallen schwere Kirchenglocken. Aber danach beginnt eine Handlung, grausam und ohne Hoffnung, immer vertieft durch Melodien, die unter die Haut gehen und nicht aus dem Gedächtnis verschwinden.

Zum Stichwort „Chowantschina“ gibt es hier bereits sieben andere Artikel:

https://luft.mind-panorama.de/?s=chowantschina&x=15&y=15

Das Musikdrama ist eine Miniatur der russischen Seele, des Innenlebens. Die alten Herrscher sind längst verschwunden. Andere werden folgen. Wie vor dreihundert Jahren, als Peter der Große das Land regierte. Zum Thema „Russland“ gibt es hier ein eigenes Kapitel, mit 41 Beiträgen. Sie spiegeln die Vielfalt und die Farben einer eigenen Welt, die in Westeuropa nicht immer verstanden wurde. Vor dreißig Jahren fiel der „Eiserne Vorhang“ zwischen Ost und West, zwei feindlichen politischen Systemen. Das war gur, aber seitdem hat man Russland nicht so aufmerksam betrachtet, wie es notwendig war. Auch das lässt sich ändern, ohne Gewalt. Wenn man aus der Geschichte lernt.

Mussorgskys Schicksal war eine Tragödie. Er lebte eine Zeit lang mit seinem Kollegen Rimsky-Korssakow zusammen, und als der heiratete, verfiel der Komponist dem Alkohol. Deshalb verlor er seinen sicheren Arbeitsplatz als Staatsbeamter und bekam nur noch ein Gehalt dafür, dass er die Oper „Chowantschina“ weiter schrieb. Geholfen hat ihm das nicht, weil Niemand die Ursache erkannte. Es die gleiche wie beim bayerischen Märchenkönig Ludwig II. Der Staat benutzte bei seiner Verhaftung  ein falsches Gutachten des Psychiaters Bernhard Gudden, um den Herrscher loszuwerden. Das blieb Mussorgsky erspart, aber kurz vor seinem Tod irrte er durch Moskau und rief: „Jezt habe ich gar nichts mehr und muss betteln gehen.“ Danach starb er. Seine Musik ist unsterblich.

Hier sieht man den Film in dem kleinerem Format (2.11 Std.):

https://www.youtube.com/watch?v=tCMdC1JL2SE

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