Neongrüne Jacken

11.8.2020. Fast zwei Drittel dieses Jahres sind auch schon vorbei. Es ist keine physikalische Beschleunigung aufgetreten, aber schon seit Jahren scheinen die Tage schneller zu vergehen, obwohl äußerlich der Wechsel der Bilder sein Tempo verlangsamt hat, der Inhalt sich manchmal gar nicht verändert. Obwohl die Welt ständig in Bewegung ist, Unruhe oder eine grundlose Dynamik erzeugt, bei der immer wieder das Gleiche sich in den Vordergrund schiebt, manchmal mit wechselnden Kostümen und Perücken, die nur ausgetauscht werden.

Eine optische Täuschung ist das nicht, sondern ein radikaler Wechsel der Perspektiven und Gewichte. Maskeraden sind Zeitverschwendung. Auch der öde Themenabend, bei dem eine Gruppe junger Damen den Sinn ihres Treffens so erklärte: „Wir beschließen vorher gemeinsam ein Thema, und Jeder muss sich danach kleiden, von der Farbe bis zum Schmuck.“ Das war kein Hörfehler, sondern abendfüllend. Sie schienen sich dabei alle selbst sehr zu langweilen, redeten kaum miteinander. Trockenes Stroh kann man auch gewohnheitsmäßig, immer wieder rascheln und knistern lassen. Das ist kein Ausnahmefall, sondern sehr beliebt und eine unerschöpfliche Idee, die lange Abende rettet. Auch beim Zuhören fremder Gespräche ist die gähnende inhaltliche Leere gern durch hektische kurze Modewörter ersetzt, so dass allmählich auch das pflegeleichte Mobiliar verschwindet, das matte Licht, die schlecht schmeckenden Getränke und die Mitarbeiter, weil Feierabend ist. Spannender war es, als dann noch ein später Gast auftauchte, sportlich, mit einer auffälligen Plastikjacke in grüner Neonfarbe. Er hatte gerade ein Nachbarlokal mit schlechtem Ruf und misstrauischen Gästen ganz schnell verlassen, weil zwei Stammgäste sich von ihm beobachtet und überwacht fühlten und deshalb seinen Dienstausweis sehen wollten. Er war ganz verwirrt, „Ich war doch nur privat da.“ Ich wollte ihn beruhigen, „Klar, dass du denen deinen Dienstausweis nicht zeigst. Aber bei mir hast du keine Probleme damit.“ Das hat ihm tatsächlich die Sprache verschlagen. Er ließ sein bezahtes Getränk einfach stehen und eilte mit überhöhter Geschwindigkeit in die Nacht davon.

Sehr professionell war das nicht. Aber nicht selten. Ein immer größer werdender Teil der Mitmenschen langweilt sich, weil das Unterhaltungsangebot immer mehr kostbaren Platz an sich reißt, aber der zeitgleich wachsende tägliche Bedarf auch viele andere Themen von der Bühne fegt. Die Summe von Null und Nichts ist Null. Aber ein Irrtum, wenn man durch die Stadt fährt und direkt sieht, was andere Leute sonst noch treiben. Wer körperlich am härtesten arbeitet, zum Beispiel beim Straßenbau oder in der Gastronomie, verdient nicht viel damit. Eine alte Kellnerin, die längst reif für die Rente war, erzählte mir, „Das kann ich mir nicht leisten. Denn dann bekomme ich nur noch sechshundert Euro im Monat.“ Das ist kein Einzelfall.

Neongrüne Jacken fallen auf, mehr als schwarze Anzüge. Entscheidend ist, wer drin steckt. Grelle Schockfarben verhindern die gewaltsamen Übertreibungen rasender Autofahrer. Ein diskreter schwarzer Anzug kann auch nur die Tarnung für einen üblen Gauner sein, der im Kaufhaus seine alten Klamotten liegen lässt und das Haus mit einem kostenlosen Smoking verlässt. Oder mit einer elastischen Hose, deren Taschen sich automatisch, stufenlos erweitern, wenn sie gefüllt werden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Das ist eines der brennenden Themen unserer Zeit. Geräuschlose Schnelligkeit reicht längst nicht mehr aus, wenn Venezianische Spiegel nur die ahnungslose Kundschaft zeigen, aber nicht, dass sie hinten durchsichtig sind, mit bequemen Stühlen für das blitzschnelle Sicherheitspersonal.

Aber es geht ja nicht um Lappalien. Früher gab es dicke Handbücher, in denen man lange blättern musste, um die Merkmale verdächtiger Spuren zu erkennen. Längst gibt es Fernsehkrimis, bei denen man nur zuschauen muss. Sie werden sich immer ähnlicher. Das heißt: Die Spuren wrden rechnerisch immer weniger. Die statistische Voraussage lässt erkennen, dass es vielleicht in drei Jahren gar keine Spuren mehr gibt.

Dass solche Prognosen logisch sind, aber ganz falsch, ist eines der größten ungelösten Rätsel. Auch falsch. Logik und Wahrheitsfindung sind keine feindseligen Konkurrenten, sondern Partner, die noch ganz andere Mitstreiter haben: Glaubwürdigkeitstests. Wahrheitslücken und ihre Auflösung. Überprüfung widersprüchlicher Zeugen. Die Liste kann man seitenlang fortsetzen.

Unersetzlich ist der Einsatz maßgeschneiderter Computerprogramme, mit Filtern auch für ausgefallene Bereiche. Trotzdem findet man in Gerichtsreportagen immer noch schwere Unterlassungsfehler, oder wenn man Prozesse als anwesender Zuschauer oder im Auftrag von großen Firmen besucht. Schlecht vorbereitete Richter und Anwälte sind keine einsamen Einzelfälle. Das Ergebnis bedroht die Verlierer, obwohl sie das nicht sofort erkennbare Recht zweifelsfrei auf ihrer Seite haben.

Ein Grund zur schlechten Laune ? Dann müsste man nur noch mit verbitterter Miene herumlaufen. Ein Gesprächspartner meinte einmal, „Das ist doch alles sehr ernst.“ Nein. Alles nicht.

Die englische Königin Elizabeth II. ist Staatsoberhaupt, ein ernster Mensch und sehr pflichtbewusst. Aber zu ihrem 60. Krönungsjubiläum genoss sie persönlich in der Londoner Westminster-Kathedrale die musikalischen Beiträge ihres Landes:

https://www.youtube.com/watch?v=X-1dQ8t03mE

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