18.11.2019. Im November war ich noch nie in Wien, aber ein paar Mal im Dezember. Trotzdem kommt Wien einem manchmal hinterhergereist. Nicht die topographische Stadt mit ihrer ganzen Architektur, sondern Fotos oder Musik, die man ohne große Planung ständig finden kann. Und manchmal ist es nur eine einzige Stimme. Ein Biertrinker an einer kleinen Theke, der mit Niemand sprach und deshalb sehr einsam wirkte. Wenn man das Reden dann trotzdem versucht, verwandelte sich wie jetzt die Novembergestalt in einen lebhaften Menschen von der Donau, unverkennbar am scharfen und klingenden Dialekt. Dem nutzt es dann auch nichts, wenn er erzählt, er wäre aus München-Pasing, denn dort gibt es einen darartigen Sprachklang unter den Eingeborenen überhaupt nicht. Zum Schluss wollte er noch in sein Stammlokal, und aus dem Gespräch vorher ergab sich zweifelsfrei, dass es nur hundert Meter entfernt war, obwohl er nicht einmal den Namen nannte. Aber es im Viertel ist es sehr bekannt. Man kann also in einem ganz normalen Gespräch Dinge herausfinden, die Jemand gar nicht sagen will. In diesem Fall war es ganz harmlos. Aber da gibt es auch ganz andere Kaliber und Größenordnungen.
Wunschgemäß haben wir uns dann auch nicht über Wien unterhalten, sondern Münchner Alltagsdinge vorbeiplätschern lassen. Wegen der angenehmen Stimmung war das auch interessanter als eine halbe Stunde einem Akademiker zuzuhören, der seine Wichtigkeit in unverständlichen Fremdwörtern beweisen muss. Ein Kollege hat sich mal wochenlang mit dem Dichter Goethe beschäftigte, blickte aber trotzdem nicht durch, obwohl er ständig davon erzählen musste. Ich habe mir dann den Scherz erlaubt, ein paar biographische Daten Goethes frei zu erfinden, und er staunte tatsächlich, dass auf seinem Fachgebiet Jemand noch Besser Bescheid wusste, obwohl alles nur pseudo-korrekte Phantasie war.
Wenn ein echter Wiener von etwa dreißig Jahren seinen eigenen, unverwechslebaren Dialekt nicht verleugnen kann, wie der „einsame“ Biertrinker, dann nennt man ihn auch einen Schlawiner, einen Schwindler, aber mit einem Augenzwinkern Denn andere Leute reden viel Schlimmeres und Gemeineres zusammen, selbst wenn sie nüchtern sind. Da sagt man dann, „Schleich di“ (Hau ab) oder geht selbst.
Nach dem Gespräch über München-Pasing (erfundener Herkunfts-Schwindel) kam anschließend, als er weg war, aber doch die Erinnerung an die alte Kaiserstadt an der Donau wieder hoch. Im November denken die Wiener besonders gern ans Sterben, und es heißt, „Der Tod, das muss ein Wiener sein.“ Eine Trauerfeier nennt man deshalb “ a schöne Leich‘ „, weil man auf Kosten des Verblichenen dabei viel essen und trinken kann, Voraussagen über das erwartete Erbe macht und wie furchtbar der Abwesende doch immer war. Solche Schwätzer werden dann manchmal beim Notar versammelt, und der spielt ihnen eine Videobotschaft aus dem Jenseits vor, wo der reiche Onkel sie alle mit groben Worten zusammenschnauzt und verkündet, “ Men ganzes Erbe habe ich dem Wiener Tierheim vermacht, damit die armen Hunderl und Katz’n sich jeden Tag richtig satt essen können.“
Wien in der dunklen Jahreszeit wird nicht vom preiswerten Massentourismus heimgesucht. Der große Prater mit dem Riesenrad ist fast menschenleer. Dafür haben die Häuser im benachbarten Rotlichtviertel Hochkonjunktur, und wenn mal zufällig eine Tür dort aufgeht, schaut man in einen halbdjunklen Raum, wo freundliche ältere Damen ihre Gäste mit Schampus (Champagner) verwöhner, die billigste Flasche für dreihundert Euro. Am Spittelberg, nicht weit von der kaiserlichen Hofburg, gibt es das älteste Gewerbe der Welt auch. Der Sohn von Maria Theresia, später sogar Kaiser Joseph II., wollte einmal nachschauen, was seine Untertanen denn alles so treiben. Er schlich incognito, natürlich als Handwerker verkleidet, in eine der gastfreundlichsten Gaststätten, sprach dann aber ein so vornehmes Hochdeutsch, dass die anderen Gäste ihn mit einem kräftgen Schwung wieder ins Freie beförderten. Beschwert hat er sich darüber nicht, denn dann hätte das ja auch die Mutter erfahren, das berühmte Reserl, die sogar jahrelang einen hartnäckigen echten Krieg führte, gegen Preußens machtbewussten König Friedrich den Großen.
Vom König Friedrich ist auch der Satz überliefert: „Jeder soll nach seiner Art glücklich werden.“ Das hört sich leicht an, ist aber in der Realität oft Mangelware. Unzufriedenheit, Neid, Machtgier und Gehässigkeit treiben ein Teufelsrad an, das immer neue Energie aus sich selbst heraus erzeugt. Ein Bekannter von mir arbeitet in der Küche eines Lokals, das früher bundesweit durch Schlagzeilenn bekannt war. Die Zeiten haben sich geändert. Zwar sind die Wände noch voll mit Sportfotos, aber wir trinken dort gelegentlich gaz ruhig einen Kaffee zusammen. An der Theke, weil die Mitarbeiterinnen auch in die Jahre gekommen sind und nicht mehr ganz so beweglich sind wie früher. Außerdem komt es dann manchmal zu erstaunlichen Gesprächen. Man erfährt auch Dinge, die nicht in der Zeitung stehen. Und dabei gilt ein eisernes Prinzip: Sich nicht einmischen. Keine eigenen Wichtigtuereien. Hält man sich daran, entsteht Vertrauen. Das wichtigste in jeder Art von Beziehung. Böswlliger Tratsch ist da fehl am Platz.Außerdem sage ich es meinem Bekannten, wer da gerade mal wieder mit doppelter Lautstärke über ihn geredet hat. Daraus verstärkt sich ein Gefühl der gemeinsamen Zuverlässigkeit. Und ansonsten braucht man sich in gar nichts weiter einzumischen oder dumm daher zu reden. Jeder lebt in seiner eigen Welt und hat ein Recht darauf. Was ich selbst denke, steht in meinen Artikeln auf dieser Webseite. Namentlich nenne ich Leute ausschließlich nur dann, wenn sie mit entsprechenden Zeitungsmeldungen der Öffentlichkeit sowieso allgemein bekannt sind. Wenn man Bundeskanzlerin Merkel nicht einmal mehr kritisieren darf ( man darf ja), aber wenn es so wäre, dann wäre unsere Verfassung wirklich in Gefahr. Aber ein Recht auf Schutz haben Alle, die Vertrauen erwarten und das auch zuverlässig bekommen.
Das ferne Wien in diesen Tagen ist fast frei von Massentourismus. Vor über zehn Jahren war ich einmal auf dem Kahlen Berg, wo sonst sich Ausflusgsrestaurants drängen und einen weiten Blick auf das Stadtpanorama anbieten. Damals im Dezember war es dafür zu kalt, aber der Ausblick war genauso einmalig wie im Sommer, nur mit gedämpfteren Farben. Bei der Rückkehr zur Stadt kommt man durch das berühmte Weindorf Grinzing, wo sonst die Heurigenlokale überfüllt sind. Aber damals gab es eine unerwartete Überraschung. In einer halbleeren Gaststube setzte sich ein Akkordeonspieler in unsere Nähe. Der erste Gedanke: „Jetzt müssen wir uns wohl einen anderen Platz suchen“, denn diese Instrumente können sehr laut werden. Aber der alte Herr begann, ganz zurückhaltend und angenehm, Walzermeldodien von Johann Strauß zu spielen. Später erfüllte er sogar Wünsche nach den Klängen von Kalman, Lehar und anderen aus der längst untergegangenen Monarchie von Kaiser Franz Joseph und seiner Sissi. Als er dann keine Lust mehr hatte, haben wir ihn zum Wein eingeladen und noch eine Stunde angenehm miteinander geredet. Dabei blieb er in seiner Welt, ließ die Zuhörer daran teilnehmen, und zum Schluss ging Jeder wieder seinen eigenen Weg. So soll es sein.
Dazu passen die „Geschichten aus dem Wienerwald“, Walzermusik von Johann Strauß: