22.8.2020. Vierzehn Kilometer waren es damals bis nach Bad Bentheim, wo eine eindrucksvolle mittelalterliche Felsenburg auf einem kleinen Berg thronte und das umliegende Flachland hoch überragte. Acht Kilometer weit waren es bis zur nächsten Großstadt, dem holländischen Enschede. Und das war es auch schon. Bis zum neunzehnten Lebensjahr wurde dieser geographische Radius nur ganz selten überschritten. Der Geburtsort an der Grenze hatte 25.000 Einwohner. Das ganze Stadtzentrum beherrschte eine neugotische Textilfabrik, wo die meisten Arbeiter einen Platz fanden, bis Anfang der Achtziger Jahre alles zusammenbrach. Das Management hatte nicht ernst genommen, dass im fernöstlichen Asien mittlerweile eine kostengünstige Konkurrenz entstanden war, die dank niedriger Löhne die ganze Welt mit billigen Textilien überflutete. Mit einem Schlag gab es, unerwartet über zwanzig Prozent Arbeitslose, zusätzlich zu den Rentnern. Bei 25.000 Einwohnern waren es über 6.000, die plötzlich nicht mehr zur Arbeit gebraucht wurden und spazieren gehen mussten. Die Stadt blieb nicht faul und baute mit staatlicher Unterstützung am östlichen Ortsausgang ein Industriegebiet mit ganz anderen Firmen. Ähnlich war es auch in anderen Regionen, zum Beispiel in Nordbayern, wo die unüberwindliche Zonengrenze zur DDR das ganze Gebiet zur Sackgasse machte, bis es hinter dem Stadtgebiet von Hof einfach nicht weiter ging.
Landschaftlich lebte man in einer Idylle. Überall gab es fast nur einzelne Bauernhöfe mit großem Ackerland, ein paar begrenzte Kleinstädte. Dazu viele Wiesen und Wälder in einer endlosen flachen Ebene. Der Natur war man immer ganz nahe, erlebte die wechselnden Jahreszeiten sehr genau und begriff allmählich die Zusammenhänge zwischen einer längst vergangenen Frühzeit und den technischen Veränderungen in der Großindustrie. Auch das war nicht einmalig auf der restlichen Welt. In Italien kann man heute noch sehr deutlich studieren, welche wirksamen Folgen der industrielle Norden mit seinen modernen Fabriken erlebt, im scharfen Unterschied zu den Ackerflächen mit Zitrusfrüchten oder Weinreben, südlich von Neapel, wo der Obstanbau und das Weidevieh nur mit Mühe die weiter sinkenden Weltmarktpreise aushalten.
Dort sind sehr viele Jugendliche arbeitslos, belasten damit schuldlos das soziale Klima und die Mängelstatistik der Gesetze. In Westfalen war die Rettung das Gymnasium. Auch wenn man wichtige Fächer wie Physik und Chemie persönlich nicht leiden konnte, gab es das ganze Kulturpanorama der abendländischen Vergangenheit laufend auf dem Tablett serviert. Nur wer selbst dafür zu faul war, langweilte sich zwangsläufig oder ging vorzeitig, ahnungslos in eine ganz andere Umgebung, die oft körperlich den vollen Einsatz forderte und dafür wenig Geld zahlte.
Persönlich unschätzbar wertvoll waren die Informationen über Philosophie, Geschichte, Fremdsprachen und die Erzeugnisse von Phantasie und Klugheit, die Geistesriesen auf der ganzen Welt hinterlassen haben. Sie waren das sichere Fundament für eigene Eroberungen. Dazu gehörte mit einundzwanzig Jahren die ausführliche Durchwanderung von Sigmund Freuds Psychoanalyse, die im Lauf der Jahre untrennbarer Teil des eigenen Denkens wird. Mit sechzehn Jahren gab es schon die Ausgrabung der unterirdischen Schatzkammern von Richard Wagner, die uns im sehr guten, umfassenden Musikunterricht neun Jahre lang einfach verweigert wurde, weil der etwa fünfzigjährige Lehrer meinte, „Das war ein Nazi-Komponist.“ Der Unsinn war damals durchaus verbreitet, weil Wagner Hitlers Lieblingskomponist war, aber bei dessen Geburt am 20.4.1898 schon fünfzehn Jahre lang tot war. Das neue Bayreuther Wahnfried-Museum hat im „Siegfried-Bau“, einem östlichen Seitenflügel, im Erdgeschoss eine Ausstellung zu diesem schwierigen Thema entworfen, die nach Presseberichten nicht so gelungen, angemessen und tiefgründig ist wie es hätte sein können. Aber das überschreitet den Umfang dieses Artikels.
Neben der Tiefenwirkung von Sigmund Freuds Erkenntnissen und der ganzen Bandbreite der guten Musik, vom ozeanischen Barock-Genie Bach bis zur leichteren Gegenwart, bleiben unersetzlich die frühesten Dokumente der Malerei, Bildhauerei, Architektur und vor Allem die inhaltlich hochwertigen Bücher von Platon, Eichendorff, Kafka, um nur willkürlich drei Namen zu nennen, weil sonst hundert Seiten nicht ausreichen.
Gar nichts gehört haben wir in der langen Schulzeit über Kinofilme, obwohl sie schon seit Anfang des damaligen Jahrhunderts immer mehr für wetvollen Gesprächsstoff sorgten, auch wenn bei den Produkten die lebensnotwendige Zufuhr frischer Luft stark nachgelassen hat. Die große Zeit ist einfach vorbei. Und die Konkurrenz schläft nicht, die Auswahl ganz anderer Möglichkeiten, so wie in der anfangs erwähnten Textilindustrie
Noch schlimmer war das Wegschauen bei allen Themen der Ökonomie, die man den zeitlich kürzer auftretenden Realschulen überließ, weil sie nicht in die zerbrechlichen Elfenbeintürme und Luftschlösser des traditionellen Bildungs-Kanons passten, der noch in den untergegangenen Fürstenschlössern und adeligen Stadtvillen immer stärker den Fußboden anhob, bis er in den Wolken verschwand.
„Die Gesetze der Ökonomie“, die hier als eigener Bereich rechts unten auf dieser Seite zu finden sind, sind kein trockener Staub für Auserwählte, sondern können berufliche und private Existenzen verbessern oder durch Ignoranz beschädigen. Auf dem Gymnasium gab es dieses Fach noch nicht. Das muss sich ändern, und zwangsläufig wird es auch geschehen.
Genauso vernachlässigt wurden juristische Kategorien. Dabei springem jeden Leser in der weit ausgebreiteten Tagespresse die Falschbewertungen, mangelhaften Gutachten und Urteile ins Auge, die schwerste Folgeschäden anrichten und noch nicht einmal erkannt werden.
Dagegen helfen keine hochtrabenden, gern angemahnten Bewusstseinsänderungen, sondern nur eine spürbare Reform und Aktualisierung der Schulpläne. Das ist Sache der Kultusminister. In München sitzen sie direkt neben der Residenz, am Odeonsplatz, im lauschigen Innenhof der Theatinerkirche, wo man auch auf einer beliebten Café-Terrasse stundenlang lesen, lernen und über den menschlichen Forschritt nachdenken, diskutieren kann. Aber das allein reicht nicht. Ein altes Sprichwort hat Recht: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Auch hier soll keine schlechte Laune erzeugt werden, sondern zum Nachdenken geweckt werden.
Manchmal helfen alte Schlager. Aufzeichnungen von Berliner Tanzorchestern konnte man schon 1928 erleben, heute oft gemeinsam mit stummen Freizeitfilmen von damals:
https://www.youtube.com/watch?v=dCX_3tMnj54
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