Stammtische am Starnberger See

30.8.2019. Wenn man keine beruflichen Termine hat, zum Beispiel am heutigen Samstag, kann man einfach in eine Straßenbahn oder einen Stadtbus einsteigen, ohne festes Ziel. Oberirdisch bekommt man viele Stellen zu sehen, die man vorher gar nicht oder nur oberflächlich erlebt hat. Unterirdisch ist das natürlich auch, weil alle Gegenstände ein Innenleben haben, das nach Entdeckung schreit.

Am Stadtrand ist es meistens nicht so gemütlich. In Neuperlach oder am Hasenbergl stehen riesige Wohngebäude, die alle gleich aussehen und an Hühnerkäfige erinnern. Aber es leben echte Menschen darin, weil sie wenig Geld und keine andere Wahl haben. Dabei wäre es leicht gewesen, solche Viertel so zu gestalten, dass sie auch für das Auge attraktiv sind, wie zum Beispiel die alten Arbeitersiedlungen am Wettersteinplatz, mit Türmen, Erkern und gemütlichen Innenhöfen.

Verlässt man im Süden die Stadt, kommt man in die Millionärsviertel am Starnberger See. Selbst Märchenkönig Ludwig II. hatte dort eine vergleichsweise einfache Villa in Berg und dort ist er, angeekelt von der bösen Welt, die ihn vernichten wollte, ins Wasser gegangen.

Eine unbekannte Sehenswürdigkeit sind die Stammtische am Starnberger See. Sie beanspruchen viel Platz in den gemütlichsten Wirtshäusern, doch selbst im Hochsommer darf sich kein Tourist dorthin setzen, auch wenn die meisten Plätze frei sind. Einmal habe ich es trotzdem versucht, da sprang gleich ein runzeliger Waldschrat hoch und machte mit militärischen Kampfbewegungen klar, dass hier nur die Besten der Besten sitzen. Das sind diejenigen, die keine Kreditkarten brauchen, sondern in jeder Bank sofort mit Goldbarren oder Diamanten begrüßt werden. Wenn natürlich der russische Präsident Putin zur Tür hereinkommt, dann gibt es gleich eine lange brüderliche Umarmung und er versteht sofort, wenn der alte Alois ruft, „Wladimir, Gospodin, der Wodka ist schon im Kühlschrank für dich. Nasdorowje!“

Wenn man den Alois außerhalb seines Stammtischs aus handgeschnitztem alten Zirbelholz trifft, ist er ganz normal. Er bleibt aber dabei, dass dort, wo er in seinem Haidhausener Stammlokal sitzt, keine Leute etwas zu suchen haben, die nicht wissen, wie man eine große Dose Kaviar und einen seltenen Jahrgangs-Champagner mit spitzen Fingern verschluckt. Aber sonst redet er auch bei einer einfachen Portion Salami-Pizza mit Tischnachbarn, die weniger als fünfhundert Euro Rente im Monat haben. Voraussetzung ist natürlich, dass er selbst redet und die anderen wissen, dass er sie sofort unterbricht, wenn sie sich nicht mit seinen Erfolgen beschäftigen. Dazu braucht er nur zwei Sätze: „Das hast du schon beim letzten Mal erzählt.“ Oder „Das interessiert mich nicht.“ Alois erzählt zwar auch immer dasselbe, aber nicht ohne eine Milliarde Projektgewinn, mit dem Auftritt berühmter Zeitgenossen wie Onassis, Friedrich Flick oder Henry Ford, von denen Alois weiß, dass er abends immer noch gern ein Bier mit ihnen trinkt, obwohl sie längst verstorben sind. Ohne Phantasie wäre jeder Mensch nur ein Nagetier in einem rotierenden Hamsterrad und nicht wert, die kostbare Zeit von Alois zu verplempern, dem übrigens auch die ganze Münchner Altstadt gehört, weil seine Eltern ihm das als Kind geschenkt haben und er glaubt, das die Bauten er sich selbst erarbeitet habe, mit seinen vielen Beziehungen bis zum Papst in Rom, der auch immer für eine Spende aus gläubigen Händen dankbar ist.

Nicht Jeder kann sich den Starnberger See leisten. In der nahen Großstadt gibt es viele Türen, die so aussehen, als wären sie fest verschlossen. Aber wenn man eine Geheimzahl kennt, die nicht kleiner als eine Milliarde ist, stehen sie weit offen. Man muss nur leise an das Holz tippen, dann springen sie auf. Von außen sehen die Häuser oft aus wie abbruchreife Baracken, aber drinnen stehen ein paar Computer, die direkt verbunden sind mit allen Banktresoren, Immobilienbesitzern und Unterhaltungskonzernen auf der ganzen Welt, die nur dann noch Gewinne abwerfen, wenn man auf neue Ideen kommt. Das Geld liegt nicht auf der Straße, sondern in Superhirnen wie Alois, den Viele für einen knorrigen alten Almbauern halten, der aber überhaupt keine Rindviecher im Kopf hat, sondern sich selbst gerade einen Thronsessel bauen lässt, der größer ist als London und mehr wert als die Bank von England.

Die von solchen Superhirnen gesteuerte Unterhaltungsindustrie geht mittlerweile ganz neue Wege. Schnell weg aus den alten Kinos und den Mottenkisten im Internet – heißt das Zauberwort „Virtual Reality“. Das klingt sehr schlau und ist es auch. Die „künstliche Realität“ breitet sich immer mehr aus wie ein Heuschreckenschwarm. Dabei greifen die Wanderbiester zu Manipulationen der Realität, die täuschend echt wirken, aber auf Knopfdruck wieder spurlos verschwinden. Fährt man zum Beispiel mit der Straßenbahn zum exklusiven Villenviertel in Grünwald, kommt man zwangsläufig an der Bavaria-Filmstadt vorbei. Ab Mittags, wenn sie ausgeschlafen haben, sind die Fahrgäste überwiegend attraktive junge Burschen und kernige, resche Jungfrauen. Sie wollen alle Filmstars werden, obwohl kaum noch welche gebraucht werden. Fährt man später von Grünwald wieder zurück, sitzt das gleiche Jungvolk wieder in der Straßenbahn. Sie sind dann aber fett geschminkt, tragen schlohweiße Altersperücken und abgewetzte Kleidung aus der Mülltonne Mit dieser neuen Form der Realität sollen sie dann in der Stadt für Spannung sorgen, Passanten erschrecken und sich gegenseitig unauffällig mit dem Smartphone filmen, zum Weiterverkauf bis nach Alaska. Gestern hatten Einige den Auftrag, vor einem schicken Bistro am Wiener Platz nach gezielt für sie frei gehaltenen Plätzen zu suchen. Dann setzen sie sich direkt an den Nachbartisch ihrer Opfer und reden mit dreifacher Lautstärke belangloses Zeug. Die nächste Stufe der absichtlichen Belästigung ist es, wenn alle gemeinsam Zigaretten qualmen und dem Nachbarn direkt ins Gesicht blasen, obwohl sonst weit und breit Niemand raucht. Das Personal nimmt keine Beschwerden entgegen, sondern hat vorher ein paar elektronische SMS bekommen, mit dem Auftrag: „Tu so, als wären das deine bestenj Freunde.“ Dann stürmt gleich ein Kellner herbei und ruft, „Schön, dass ihr endlich wieder mal da seid.“ Obwohl er sie gar nicht kennt. Dann wird ganz eng umarmt. Feuchte Bussis werden ausführlich ausgetauscht, und abends diskutiert man, wie das Alles noch unverschämter gemacht werden kann.

Das war nur eine Kostprobe. Aber die Virtual Reality soll in Zukunft unser ganzes Leben beherrschen, Eintritt kosten und in uns den Wunsch nach neuen Markenartikeln wecken, die eigentlich Keiner braucht. Am späten Nachmittag werde ich in der Altstadt einen langjährigen Nachbarn treffen. Man kann ganz sicher sein, dass dort auch schon die quasselnden Lautsprecher und Zigarettenraucher warten, damit unsere Welt immer voraussehbarer und einfacher wird. Das Einfache ist das Gegenteil vom Komplizierten. Damit lässt sich auf allen Gebieten viel Geld verdienen. Mit dieser Erfahrung würde sogar der alte Alois mir Recht geben.

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