16.12.2021. Dieser Bericht erscheint hier heute zum ersten Mal. Aber kann auch zeigen, was Begeisterung bedeutet, vor 35 Jahren. 17.8.1986. Samstag. Ab Nürnberg fährt der Zug durch dunkle fränkische Wälder Richtung Bayreuth. Bisher hat man diese Stadt nur zweimal flüchtig als Kurzbesucher gesehen. Diesmal sind die ersehnten Karten gekommen. Tristan und Isolde. Musik der allerhöchsten Kategorie. Ein funkelnder Spiegel der Seele, in Wagners gewaltigen Klangfluten, extremen Gedankengebirgen und magischen Naturbildern. Eine Fahrt in die – Heimat, in die archaische Welt des Mythos. Ein Traum wird jetzt wahr. Mit den Eintrittskarten wurde ein Privatquartier in der Maximilianstraße vermittelt, mitten in der Stadt, am Markt. Es sind freundliche Gastgeber. Ein älteres Bayreuther Ehepaar. Sie überlassen den beiden fremden Besuchern einen großen Schlafraum in ihrer Wohnung. Dort an der Wand hängt ein gerahmter Spruch, „Die Treue kommt zuletzt zuerst.“ Das bedeutet anscheinend, daß man den Wert gegenseitiger Treue erst sehr spät erkennt, mit wachsender Lebenserfahrung und menschlicher Reife. Bereitwillig geben die alteingesessenen Gastgeber Tipps für eine erste Stadtbesichtigung.
Dann beginnt eine Wanderung zum Norden der Stadt, ganz langsam, durch die friedlich dahinträumenden Häuser der Altstadt. Im ziegelroten Festspielhaus zeigt man gerade die Götterdämmerung in Peter Halls umstrittener naturalistischer Inszenierung. Er bemüht sich, Wagners Bühnenbild-Visionen ganz genau zu verwirklichen. Pressefotos zeigen nackte Rheintöchter in einem großen Wasserbecken, das durch einen riesigen, hochgeklappten Spiegel die Illusion eines Schwimmens im Rhein erzeugt.
Im Seitengebäude des Festspielhauses schallt gerade durch offene Fenster, leise wie aus weiter Ferne, dramatischer Stimmenklang und Wagners gewaltiger Orchesterstrom. Durch ein Fenster im Obergeschoß des Bühnenhauses schauen zwei Frauen im Kostüm, mit langen blonden Germanenzöpfen, weit über das nächtliche Land in die Abenddämmerung hinaus. Eine starke mythische Stimmung liegt in der Luft, wie aus alten Sagen.
Sonntag. Der Tag der Vorstellung. Die Wirtin der Privat-Unterkunft am Markt serviert ein reichliches Frühstück. Ihr Mann kommt dazu. Beide erzählen aus dem alten Bayreuth. Er zeigt einen Gralskelch, wie er in den allerersten Vorstellungen des Parsifal verwendet wurde. Er selbst hat in den Dreißiger Jahren im Festspielchor der Meistersinger gesungen, fährt mehrtägige Besucher sogar an vorstellungsfreien Tagen in die Naturschönheiten des Frankenwalds.
Draußen ist ein heißer Augusttag. Nicht weit entfernt ist Wagners Wohnhaus Wahnfried. Drinnen wurde sorgfältig ein Museum eingerichtet. Aus Lautsprechern schallen berühmte historische Aufnahmen der Werke des Meisters. Sommerlicht dringt durch ein hohes Fenster in die reich gefüllte Bibliothek. Draußen im Garten, unter dem dichten Laubdach alter Bäume, ist Wagners Grab unter einer massiven, namenlosen Metallplatte. Darüber zwitschern Vögel im friedlichen Baumschatten des benachbarten Volksparks.
In heftiger Vorfreude hinauf zum Festspielhaus. Am Grünen Hügel ist jetzt noch alles mittagsstill. Die großen Laubbäume rauschen verführerisch vor dem berühmten roten Theaterbau. Im Park glänzen die Heldenstatuen und die große Wagnerbüste von Arno Breker im Sonnenlicht. Fahnen wehen an hohen weißen Masten.
Schon um 14.00 Uhr sammeln sich vor dem Festspielhaus kostbare Abendroben, weiße Smokingjacken, dunkle Anzüge. Auf dem Balkon erscheinen sieben Herren und blasen auf Trompeten feierlich ein Leitmotiv aus dem ersten Akt. Junge Frauen in langen blauen Kleidern prüfen freundlich die Eintrittskarten. Es ist sehr heiß drinnen. Anscheinend gibt es in dem sommerlich stark aufgeheizten Gebäude noch keine Klimaanlage.
Dann wird es dunkel. Das Getuschel der vielen Menschen ringsum verstummt. Aus der lichtlosen Stille des voll besetzten Hauses dringen die sehnsüchtigen Klänge des Tristan-Vorspiels, schwellen langsam immer lauter an. Von allen Seiten flutet die Musik durch den völlig verdunkelten Raum.
Der Vorhang öffnet sich. Isolde mit einer weißen Märchenkrone. Sie trägt ein langes Festgewand und einen über den Boden fließenden Schleier, der sie als großer schneeweißer Kreis umgibt und ins Überdimensionale vergrößert. So ist sie geschmückt als Braut für König Marke. Nun brausen furiose Töne auf. Schwermütige und leidenschaftliche Gesänge, die bis an die Grenzen menschlicher Gedanken gehen. Der Dirigent Daniel Barenboim zaubert einen romantisch schwelgenden, lyrischen Orchesterklang in die sonst manchmal zu dissonant gedeutete, ekstatische Musik. Die menschlichen Stimmen fügen sich wunderbar ein. Eine leicht und anmutig singende Caterina Ligendza als Isolde und ein alle Kraft einsetzender, schwelgender Peter Hofmann als Tristan.
In der Liebesszene des zweiten Aktes beginnt Meisterregisseur Jean-Pierre-Ponnelle einen großen Farbenrausch. Ein riesiger Baum mit mächtigen Zweigen und schwerem Laub füllt die gesamte Bühne bis zum Rand aus. Seine Blätter lodern rotgelb im Schein der untergehenden Sonne und der verlöschenden großen Fackel, mit der Isolde ihrem geliebten Tristan das Zeichen zum verbotenen Zusammentreffen gibt. Der gewaltige Baum, der ausschaut wie ein ganzer Wald, funkelt aus allen Richtungen silbern im Licht der Nacht, versinkt in schwarzer Dunkelheit auf dem Höhepunkt der Liebesszene und ist schlagartig wieder da, grau und nüchtern im grellen Tageslicht, als König Marke die beiden Liebenden überrascht.
Im dritten Akt überragt Peter Hofmann das Geschehen und geht bis an die äußersten stimmlichen Grenzen in den Fieberphantasien von Tristans sehnsuchtsvollem Todesmonolog. Nach sechs herrlichen Stunden verklingt gegen 22.00 Uhr die wunderbare Musik mit Isoldes sphärenhaftem Liebestod.
Im Theater ist es brütend heiß. Hemd und Anzug sind längst völlig durchgeschwitzt und naß. Im langen Beifallssturm zum Schluß sieht man aus dem Zuschauerraum regelrechte weiße Dampfschwaden emporqualmen. Draußen fahren schon pausenlos Taxis vor. Schwere private Luxusautos jagen fort vom Festspielhügel durch die Nacht. Bis in die Innenstadt bremst eine Sperrkette von weiß uniformierten Polizeibeamten den übrigen Verkehr aus den Seitenstraßen.
Nicht weit vom Markt ist die „Eule“, das bekannte Künstlerstammlokal. Drinnen schmückt schwarzes Holz die Wände. Darüber sieht man zahllose Photos berühmter Sänger und Dirigenten. Die zunächst halbleere Gaststube füllt sich rasch mit Menschen in festlicher Abendkleidung, die im lebhaften Gespräch die Vorstellung kommentieren. Um Mitternacht immer noch hellwach und voll brausender Gedanken. Nach dem Umziehen in bequeme Alltagskleidung folgt die Frage an einen Taxifahrer nach einem Lokal, wo man gemütlich noch ein Bier trinken kann. Daraufhin endet der Abend in der fremden Stadt leider in einem recht schummerigen Nachtlokal.
Montag. Aus der Ferne ein Blick auf das Festspielhaus. Dann verschwindet die Stadt aus dem Blickfeld, um in der Erinnerung lebendig zu bleiben und weiter zu wachsen als eine seit langem geliebte Hauptstadt der Musik.
Diese Inszenierung gibt es auch als DVD:
Wagner, Tristan und Isolde. Bayreuth 1983.
Mit Johanna Meier (Isolde), René Kollo (Tristan), Hanna Schwarz (Brangäne), Hermann Becht (Kurwenal), Matti Salminen (Marke), Helmut Pampuch (Hirt) Robert Schunk (Seemann, Melot) 2 DVDs, 84 und 160 Minuten
Optisch ist alles fast genauso wie damals in der Vorstellung: Licht, Farben und die faszinierende Ausstattung. Die ausgezeichnete Bildqualität entspricht genau dem, was man damals sah. Der Klang ist Standard der Achtziger Jahre und angenehm, ansprechend. Nachdem diese Inszenierung bei ihrer Premiere am 25.7.1981 ein Riesenerfolg war, gingen alle Beteiligten – Sänger, Chor, Orchester, Regisseur und Dirigent – im Oktober 1983 noch einmal in das Festspielhaus und schufen eine Aufzeichnung in Studioqualität, ohne störende Nebengeräusche.
Meisterregisseur Jean-Pierre Ponnelle ergänzte dafür beim ersten Vorspiel einige visuelle Details: Wallende Nebel über einer silbernen Eislandschaft mit archaischen Gesteinslandschaften unter melancholisch dahinziehenden schwarzgrauen Wolken. Alles andere in dieser Verfilmung ist so, wie bereits im Augenzeugenbericht von 1986 beschrieben. Die Details sind genau erkennbar, allerdings sind einige der kraftvollen, leuchtenden Farben von damals gedämpft und in Grautönen abgedunkelt. Schade.
Johanna Meier ist eine ausgezeichnete Isolde, anrührend im Spiel und mit einer melancholischen Stimme, die an Kirsten Flagstad erinnert.
Auch René Kollo bietet hier eine Spitzenleistung. Der schlanke, helle Tenor ist zwar ungewohnt im Vergleich mit anderen dröhnenden Kraftröhren, überzeugt aber stimmlich und darstellerisch in jedem Augenblick. Gleiches gilt auch für Hanna Schwarz (Brangäne), Hermann Becht (Kurwenal) und Matti Salminen (Marke). Sie haben zwar eine bedeutendere Konkurrenz in ganz anderen historischen Aufnahmen, aber hier fügt sich alles ein in das bewundernswerte Bild einer in sich geschlossenen Spitzenleistung des gesamten Ensembles.
Hier gibt es keine politischen Aufdringlichkeiten oder nervende, penetrante Aktualisierungen. Die mächtigen Bilder und die entfesselte Musik nähren sich aus der gewaltigen Quelle von Libretto und Noten des genialen Musikdramatikers und lassen jedem einzelnen Zuhörer ohne erhobenen Zeigefinger die ganze Freiheit, dazu alle Gedanken, Träume und Visionen zu entflammen, die ihm persönlich möglich sind.
Dazu das feurige, ekstatische, hochromantische Dirigat Daniel Barenboims, dessen Details manchmal unscharf verschwimmen, aber dessen Gesamteindruck das Bild einer seltenen, exemplarischen Aufführung für alle Zeiten dokumentiert.