21.8.2020. Westminster ist das gedankliche Zentrum von England. Direkt an der Themse liegt das Parlamentsgebäude mit dem Uhrenturm „Big Ben“. Daneben sieht man die Westminster-Abbey, die Krönungs-Kathedrale, wo auch Königin Elizabeth II. im Jahr 1952 zum Staatsoberhaupt ernannt wurde und, bis heute, sehr pflichtbewusst ihre Aufgaben erfüllt. Das ist anderswo keineswegs selbstverständlich, und deshalb ist die englische Monarchie sehr beliebt, während andere gekrönte Häupter zu Recht immer mehr an Bedeutung verlieren. Nicht weit entfernt ist auch der königliche Buckingham Palast und der Hyde Park, wo am „Speaker’s Corner“ Jeder lautstark seine Meinung sagen kann, ohne dass die Polzei eingreift.
Im Dezember 2003 war das nur eine von vielen Stationen in London, das man als befristeter Besucher nur oberflächlich erfassen kann. Gegenüber vom Tower, dem historischen Staatsgefängnis, stehen abends am Wochenende die Besucher Schlange vor dem „London Dungeon“, einem gruseligen Freizeitziel, wo gegen Eintritt man persönlich eine Auswahl von Schreckensfiguren wie Jack the Ripper trifft, auch einen Angreifer mit Kettensäge, und wo man von einem unerbittlichen Gericht mit weißen Puderperücken zum Tode verurteilt werden kann. Unvergesslich war auch ein viel zu langer Besuch des Britischen Museums. Riesige Säle mit herangeschleppten und zusammengerafften Schätzen aus aller Welt. Darunter auch das Original des Steins von Rosette, der eine gleichlautende Inschrift von drei verschiedenen antiken Sprachen enthält. Die dritte zeigte nur ägyptische Hieroglyphen, die man noch nie entziffert hatte, aber dann, nach einer mühseligen Simultan-Übersetzung der drei Metallplatten verstehen konnte. Anschließend gab es wegen des endlosen Aufenthaltes einen Streit mit dem Reisebegleiter, der einfach verschwand und seine eigenen Wege ging. Und plötzlich stand man ganz allein da, in der unbekannten Riesenstadt. Die Belohnung kam gleich ein paar Straßenecken weiter: Der Leicester Square, das Zentrum des Vergnügungsviertels Soho, mit Theatern, Kinos, alten Lokalen und überteuerten Pizzabuden. Die roten Stadtbusse fuhren durch das lebhafte Menschengedränge mit Hochgeschwindigkeit, ohne dass Jemand verletzt wurde. Die Kriegsparteien kannten sich einfach schon zu lange.
Aus verärgertem Trotz wurde die Rückkehr ins Hotel absichtlich verzögert. Schräg gegenüber gab es eine andere Sehenswürdigkeit: Das „Northumberland Arms“, ein einfches Soldatenlokal. Pechschwarze Wände. Billardtische. Scart-Scheiben zum sportlichen Pfeilwerfen. Die fast ausschließlich jungen Gäste mit militärichem Kurzhaarschnitt holten sich ihr Bier selbst an der Theke. Dazu liefen bekannte britische Schlager der Sechziger Jahre: Beatles-Lieder und natürlich „Baker Street“, der Inbegriff von nächtlicher Einsamkeit in der Londoner Großstadt. Kurzer Text-Auszug: „Du schwankst die Baker Street hinunter. Die Großstadt-Wüste lässt dich frösteln: So viele Leute, aber keine einzige Seele! Wenn du aufwachst, scheint wieder die Sonne. Ein neuer Morgen, aber für dich geht es weiter wie vorher.“ Die trockene, mitleidlose Melancholie, die leise Stimme des Sängers haben als Kontrast die gellend scharfen Zwischenrufe eines Saxofons. Ein Lebensgefühl auf der ganzen Welt, das vor sechzig Jahren viele andere Markenzeichen hatte, aber dann einfach verhallt und verschwunden ist, ohne das Jemand den genauen Zeitpunkt bemerkt hat. Damals saß am Einzeltisch noch ein gut gekleideter älterer Herr, ein traditionsbewusster Gentleman. Als er ging, schob er mir noch seine gelesene Tageszeitung hin: „You can have that.“ Vollendetes Benehmen, zurückhaltende Höflichkeit. Auch das war typisch für die Stadt, aber nicht der Normalfall.
Am Südufer der Themse hatte man erst 1997 auch William Shakespeares Welt-Theater sehr sorgfältig wieder aufgebaut. Das „Globe Theatre“. An dem Tag war keine Vorstellung, aber Führungen für Besucher. Es tauchte sogar der englische Theaterleiter auf, der stolz sagte: „Wir bekommen keine Zuschüsse vom Staat, und deshalb kann uns Niemand hereinreden.“ Beides ist nicht gut. Shakespeare war befreundet mit Königin Elizabeth I., die gern seine Vorstellungen besuchte, in ihrem Machtbereich große politische Leistungen realisierte und dem ganzen Zeitalter ihren Namen gab. Ihrem Vater, dem berüchtigten König Heinrich VIII., widmete der Dramatiker ein eigenes, sehr wohlwollendes Stück, um dessen Tochter zu erfreuen. Das war für ihn nicht typisch. Shakespeare nahm bei seinen anderen Bösewichtern kein feiges Blatt vor den Mund, auch wenn es bekannte Herrscher waren. Er hat Figuren geschaffen, die nicht nur Teil einer dramatischen Handlung waren, sondern sich in einer Tiefe öffneten, als wären Forscher zum Mittelpunkt der Erde und des Universums vorgedrungen. Die Gesamtausgabe sämtlicher Dramen passt in ein einziges dickes Buch. Ich schleppe das schon seit meiner Schulzeit mit. Als Neunzehnjähriger in einer bayerischen Militärkaserne gehörte das zur ständigen Lektüre, wenn die anderen Soldaten das Wochenende bei ihren Familien verbrachten. Die Zeit für einen einzelnen derartigen Ausnahme-Autor gibt es schon lange nicht mehr. Aber die Einsicht, dass da noch viele Wissenslücken sind. Bei einem Thema, das tief unter der Oberfläche noch viele unbekannte Länder und Weltmeere hat, für die aber nicht genug Zeit bleibt.
Hier erlebt man den Chor der Westminster-Kathedrale, am 60. Jahrestag der letzten Krönungszeremonie, in Anwesenheit der königlichen Familie:
https://www.youtube.com/watch?v=0JvCmvlm-Qg
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