Winterschlaf

6.11.2019. Den richtigen Winterschlaf gibt es nur bei Tieren. Im Herbst bekommen sie Signale aus der Natur, dass es kälter wird und schwieriger, Nahrung zu finden. Dann fressen sie sich rechtzeitig eine eigene Vorratskammer an und suchen eine Erdhöhle, die nicht so kalt wird wie der Rest der Natur. Dann sinken die täglichen Körperfunktionen stark ab, verlangsamen sich. Und das klappt meistens bis zum Frühjahr.

Der Mensch ist ganz anders gebaut und kann einen derart langen Schlaf nicht ertragen. Bei jüngeren Leuten steigern sich die Aktivitäten nachts und Edward Hoppers Bild von den „Night Hawks“ (Nachtfalken) zeigt eine nächtliche Runde einsamer Barbesucher, die sich nicht einmal anschauen, weil sie sich zwar langweilen, aber dort immer noch nicht die richtigen Partner gefunden haben.

In späteren Lebensjahren verändern sich die Gewohnheiten. Der Körper wird müder und sucht nicht mehr jeden Abend nervenzerreißende Abenteuer. Außerdem sind im Gedächtnis so viele Bilder aus vorherigen Jahren gespeichert, dass nicht mehr ständig neue dazu kommen müssen. Außerdem kann es geschehen, dass der Schlaf sehr angenehm unterbrochen wird. Dann rauschen die Ereignisse des vergangenen Tages vorbei. Seltsamerweise nicht die lauten und schrillen, sondern oft sind es Kleinigkeiten, die an sich schnell vergessen werden, aber im Wachzustand sich zu einer überraschenden Bedeutung vergrößern, weil da mehr dran hängt als auf den ersten Blick erkennbar. Es ist wie eine biologische Spurensuche, die auch in der Kriminalistik sich auf winzige Kleinigkeiten konzentriert, aber nur, wenn sie tatsächlich wichtig sind. Außerdem werden Assoziationen, Gedankenbrücken, aktiv, die von selbst Verbindungen knüpfen zu längst zurückliegenden Ereignisse. Allein im ständigen Vergleich, der hier nicht durch einen Willensakt entsteht, sondern vollautomatisch abläuft, werden ungelöste Probleme auf einmal deutlicher erkennbar, bekommen scharfe Konturen und lösen Ideen aus, die manchmal eine unerledigte Sache weiterbringen oder zum Abschluss.

Das liest man selten, aber es gibt für Jeden Professor oder Oberlehrer auch Wissenslücken oder Dinge, die er auf keiner Schule lernt. Es ist nichts weniger als die Traumforschung, und deren wichtigste Buch, die „Traumdeutung“, ist bereits im Jahr 1900 erschienen. Der Autor war, naheliegenderweise, Sigmund Freud, der mit seinem wichtigsten Buch längst fertig war, aber die Veröffentlichung unbedingt auf das „runde“ Jahrhundertjahr 1900 verschieben wollte. Was seine Erkenntnisse auch in vielen anderen Bereichen bedeuten, ist oft selbst dort nicht bekannt, wo man von Berufs wegen schwere Verbrechen aufklären soll. Dabei ist es unsinnig, einen Psychoanalytiker als separaten Gutachter zu beauftragen. Dann kommen auch nur einseitige Falschbewertungen dabei heraus. Es gelingt nur, wenn auch andere Wissengebiete in das Ergebnis einfließen, die eigentlich ganz weit entfernt sind. Und das Auswendig Lernen ganzer Bibliotheken bringt auch nichts, weil ein deratiges Wissen nicht mit unverständlichen Fachbegriffen das Zirkuspublikum zum Staunen bringt, sondern es muss im Inneren gründlich und auch langsam verbeitet werden, damit es zu einem funktionierenden Instrument wird, dessen Vernachlässigung schon oft zu katastrophalen Gerichtsurteilen geführt hat.

Sigmund Freud hat sich nicht nur mit den Aktivitäten des Gehirns im Schlaf beschäftigt, sondern eine breite Fülle von anderen Bereichen erforscht und gedeutet: Den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Danach versteht man, warum einige Leute sich bei ihren Witzen immer mit denselben Themen beschäftigen oder wie ein Demagoge Tausende von Zuhörern in Ekstase versetzen kann. Freud hat zwar nie ausführlich über Musik geschrieben, weil er keine Antenne dafür hatte. Aber für Skulpturen und Malerei hat er ganz außergewöhnliche Erklärungen entdeckt. Zum Beispiel, warum auf Leonardo da Vincis berühmtem „Abendmahl“ rechts von Christus nicht sein Lieblingsjünger Johannes sitzt, wie es im Neuen Testament überliefert ist, sondern eine Frau mit schulterlangen Haaren, die auch dem Porträt der Mona Lisa sehr ähnlich sieht.

Wenn man solche Analysen nicht nur liest, sondern ihre zentralen Gedanken in sich aufnimmt und speichert, werden sie – im Lauf einiger Jahre – zum Teil des eigenen Wahrnehmungsvermögens. Man erkennt sogar, wo professionelle Gutachter schwere Fehler gemacht haben, die dann von professionellen Richern sogar in ihre Urteil übernommen wurden. Vor ein paar Tagen sah ich zufällig einen bekannten Münchner Profiler. Das sind Experten, die das Persönlichkeitsprofil eines Verdächtigen analysieren. Er hat schon sehr komplizierte Fälle richtig bewertet, aber dabei niemals die Methoden von Freud erwähnt. Sie sind auch kein Allheilmittel. Die wissenschaftliche Spurenauswertung hat noch viele andere Möglichkeiten. Aber einen Mann mit solchen Fähigkeiten, den ich nur von Zeitungsfotos und Fallbeispielen kenne, für ein paar Augenblicke persönlich anzuschauen, ist auch keine Nebensache.

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